Gerade mal noch fünf Pfennige wert

Vor 15 Jahren: Mauerfall und Ausverkauf der DDR

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.
Der Mauerfall am 9. November 1989 eröffnete für die Mehrheit der DDR-Bürger erstmals den Weg in die Warenwelt des Westens. Die war all denjenigen, die nicht an Forum-Schecks für einen Einkauf im Intershop herankamen, vorher nicht zugänglich gewesen. Milka Schokolade oder Levis Jeans waren ihnen aber keineswegs unbekannt. Erste Studien über das Markenbewusstsein der DDR-Bürger ergaben, dass die »Ossis« mehr Marken kannten, als die Bundesbürger - und dass sie (im Unterschied zu den Westdeutschen) den Versprechungen der Markenhersteller glaubten. Im guten Glauben griffen sie auch bei überteuerten Waren zu, die ihnen fliegende Händler, die an den Grenzübergängen rasch zur Stelle waren, offerierten.
100 DM »Begrüßungsgeld« konnte sich jeder DDR-Bürger nach dem Grenzübertritt beschaffen. 15 DM steuerte bei beantragten Westreisen die DDR-Seite bei. Manch einer vergrößerte seine Kaufkraft, indem er Mark der DDR, in die Kleidung eingenäht oder im Auto versteckt, in die Bundesrepublik schmuggelte. Angesichts des zusätzlichen »Ostmark«-Angebots fiel der Mark-Kurs zunächst ins Bodenlose. 10 zu 1 betrug er kurz vor dem Mauerfall. Nur noch fünf Pfennige West erhielten warenhungrige DDR-Bürger für eine Ostmark am 18. November 1989. Nachdem der erste Ansturm der »Ossis« vorüber war, normalisierte sich der inoffizielle Wechselkurs wieder, der Umtauschkurs pendelte sich im 1. Halbjahr 1990 bei 5 zu 1 ein.
Was zunächst einmal die Entscheidung des einzelnen DDR-Bürgers war (ob und wie er seine legal oder illegal erworbenen DM in Westwaren anlegte), hatte im Westen durchaus betriebswirtschaftliche Dimension. »Einige hunderttausend D-Mark an zusätzlichem Umsatz« konnte die Schickedanz-Gruppe (»Quelle«) am ersten Wochenende nach dem Mauerfall verzeichnen, als deren Geschäfte wegen der Besucher aus der DDR länger geöffnet blieben. Das Ergebnis von zwei Wochen »unglaublichen Gedränges« in den 23 Woolworth Billigkaufhäusern Westberlins war eine Umsatzsteigerung von 40 Prozent, die sich später bei einem Plus von 25 Prozent stabilisierte. An der Frankfurter Börse legte die Kaufhofaktie bis Mitte November um 54 DM zu, Karstadt um 39 DM und Salamander um 30 DM. Der »Einheitsboom« kündigte sich an.
Die Erschließung der ostdeutschen Kaufkraft gewann neue Dimension, als die DDR-Regierung am 8. Februar 1990 Kreisen, Städten und Gemeinden der DDR das Recht erteilte, westdeutschen Firmen die Lieferung bzw. den Verkauf ihrer Waren vor Ort zu genehmigen. Von nun ab war der Ausflug über die Grenze nicht mehr nötig, um an Westwaren heranzukommen. Als erste nutzten die fliegenden Händler die neuen Bestimmungen und bahnten sich mit buntem Tand, vom Halstuch bis zum Lampenschirm, den Weg bis in die Kleinstädte der DDR. Bald lagen aber auch Westwaren neben dem traditionellen Angebot in den Kaufhallen von HO und Konsum. Ein ND-Bericht von Ende April 1990 beschrieb den veränderten Anblick der Kaufhallenregale: »Zöpfchen, Jägerhörnchen, knallig und gefällig verpackt, von einem westdeutschen Hersteller. Daneben: "Eier-Teigwaren"... aus dem "Möwe"-Betrieb in Waren. Die bunten Sachen aus westlichen Landen dominieren optisch und auch in der Käufergunst.« Eine Nachfrage des ND ergab: Noch hatte der VEB in der Müritzstadt seine Produktion nicht eingeschränkt. Aber man war besorgt.
Besorgt waren auch die DDR-Hersteller von Unterhaltungselektronik, die sich plötzlich an der Konkurrenz aus Fernost messen lassen mussten. Beim Vergleich vor dem Regal stellte der Käufer rasch fest, dass die Radios und Kassettenrekorder von RFT nicht nur unmodern aussahen, sondern auch viel zu teuer waren. Besser schien die »Marktsituation« noch bei PKWs. Ende 1989 hatte die DDR-Regierung den Import von 50 Typen von Autos aus dem Westen freigegeben. Danach setzte bei den Ausflügen der Ostdeutschen ins Wirtschaftswunderland auch der Run auf westdeutsche Gebrauchtwagen ein. Wie die »Ossis« auch immer zu den mindestens vierstelligen Beträgen gekommen sein mochten, die für den Erwerb einer Karosse von VW, Daimler und BMW notwendig waren - ab Januar boomten in den grenznahen Regionen Westdeutschlands die Gebrauchtwagenmärkte für Autos. 15000 Westautos wurden in den ersten sechs Wochen des neuen Jahres in der DDR angemeldet.
Wer einen Westwagen erworben hatte, und war er noch so alt und klapprig, konnte auf seine Trabant- oder Wartburganmeldung verzichten. In Magdeburg war bis Anfang März 1990 jeder zehnte Kunde vom Trabant-Kauf zurückgetreten. In Schwerin war der tägliche Absatz von 30 Trabis innerhalb von zwei Monaten um die Hälfte geschrumpft. Im PKW-Auslieferungslager Großräschen, wo noch Anfang 1990 nur eine Bestellung aus dem Jahre 1975 den Trabant verhieß, hatte der Kunde ab 13. März 1990 bereits mit einer Anmeldung aus den 80er Jahren Erfolg. Parallel dazu schrumpften die Anmeldungsfristen für einen Wartburg. Ende März 1990 konnte sich jeder Bürger der DDR einen neuen Viertakter kaufen - »ohne eine Minute darauf warten zu müssen«.
Wer nicht gewartet hatte, bereute das vielleicht schon zwei Monate später. Ab Mai waren bei der neu entstandenen Branche der Autohändler auch Westwagen für Ostmark zu erstehen. Die Volkswagen AG bot ab 17. Mai 1990 in der DDR den Verkauf ihrer Produktion - VW- und Audi-Fahrzeuge - an. Dem VW-Konzern ging es dabei vor allem darum, einen Fuß in der Tür zu haben, wenn die wirtschaftliche und politische Einigung kam. Aber auch sonst waren die eingenommenen »Alu-Chips« aus dem Ersparten der »Ossis« nicht zu verachten. Wenn auch die Erlöse der Westfirmen zunächst auf Konten von DDR-Banken einzuzahlen waren und nicht transferiert werden durften, so konnten VW und die Kaufhauskonzerne doch mit den Einnahmen ihre Ausgaben für Marketing im Osten finanzieren. Die Bestimmungen der Währungsunion sicherten ihnen schließlich den Umtausch ihrer Konten zum Kurs von 3 zu 1 zu.
Während Trabant und Wartburg auch noch im Mai und Juni 1990 Käufer fanden, erreichten viele »Waren des täglichen Bedarfs« schon vor der Währungsunion und der Übernahme der HO- und Konsumkaufhallen durch westdeutsche Handelsketten ihre ostdeutschen Kunden nicht mehr. Einzel- und Großhandel folgten Kundenwünschen und bestellten Ostprodukte zu Gunsten von Westwaren ab. Der Großhandel habe seine Abnahme um etwa 80 Prozent heruntergefahren, sagt der Chef des VEB Kühl- und Lagerwirtschaft in Berlin dem ND-Reporter am 1. Juni 1990. »Was bleibt uns übrig, als täglich selbst z.B. Geflügelgeschäfte zu beliefern? Und in den nächsten Wochen werden wir vom Lkw herunter Geflügel und Konserven verkaufen.«
Der Anfang vom Ende der DDR-Wirtschaft kündigte sich lange vor der Währungsunion an.

Chronik: November 89
1. November:
Treffen von Egon Krenz und Michail Gorbatschow in Moskau; der KPdSU-Generalsekretär gesteht dem SED-Chef, dass die DDR nicht mit ökonomischer Hilfe seitens der UdSSR rechnen könne.
2. November: Tag der Rücktritte - von Harry Tisch (FDGB), Gerald Götting (CDU), Heinrich Homann (NDPD), Bildungsministerin Margot Honecker u.a.
4. November: Großdemo auf dem Berliner Alexanderplatz.
6. November: DDR-Innenministerium veröffentlicht den Entwurf eines neuen Reisegesetzes, das auf Ablehnung stößt.
8. November: Bundeskanzler Helmut Kohl verspricht in einer Rede im Bundestag der DDR ökonomische Hilfe, wenn die SED ihr Machtmonopol aufgibt, oppositionelle Gruppen zulässt und freie Wahlen gestattet.
Beginn der 10. ZK-Tagung; am Abend demonstriert die SED-Basis vor dem ZK-Gebäude gegen »Nachtrabpolitik«.
9. November: Ein Fauxpas von PB-Mitglied Günter Schabowski auf einer internationalen Pressekonferenz führt am Abend zum Ansturm auf die Grenzen in Berlin.
10. November: Eine Demonstration der Parteibasis im Berliner Lustgarten fordert die Einberufung eines Sonderparteitages. Auf einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus in Westberlin erklärt Willy Brandt: »Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.«
13. November: Die Volkskammer beauftragt Hans Modrow mit der Regierungsbildung.
17. November: Modrow unterbreitet der Volkskammer sein Programm für ein »neu verstandenes, kreatives politisches Bündnis« im Lande sowie die Idee für eine »Vertragsgemeinschaft« mit der BRD.
22. November: Das Politbüro begrüßt den Vorschlag von »Demokratie jetzt!« zur Bildung eines »Runden Tischs«.
28. November: Kohl unterbreitet seinen »Zehn-Punkte-Plan« zur Einheit; Veröffentlichung des Aufrufs »Für unser Land« von DDR-Prominenz.

In der Reihe bereits erschienen: »Der Exodus« (Karl-Heinz Gräfe), »Die Demonstrationen (Stefan Bollinger), »Die Sprachlosigkeit des Politbüros« (Siegfried Prokop); lesen Sie am 4./5. Dezember: ...

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