Schranken für die Dorfentwicklung

Wie Dornbock in Anhalt vom Eisenbahn-Kreuzungsgesetz in den Ruin getrieben wird

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.
Schöner unsere Straßen und Schienenwege: In die Verkehrsinfrastruktur wird viel Geld investiert. Auch Dornbock in Anhalt erhielt einen modernen Bahnübergang - und steht nun vor der Pleite.
Kurz vor elf Uhr wird die Straße von Dornbock nach Diebzig zum Verkehrsknotenpunkt. Blinkende rote Lichter am Bahnübergang bremsen jäh die schaukelnde Fahrt eines Lieferwagens über den zerfurchten Asphalt. Während sich die Schranken senken, kann man den Blick über das kuchentellerplatte Land schweifen lassen. Auf einem Feld zur Rechten ist sattgrünes Kraut von Raureif überzogen. Zur Linken glänzen frisch umgebrochene Schollen in der Sonne. Von einem in der Ferne pflügenden Trecker abgesehen, gibt es keinerlei Bewegung - bis unvermittelt eine rote Regionalbahn auf den geraden Gleisen vorbeipfeift. Ihr rauschendes Fahrtgeräusch wird vom Donnern eines in Gegenrichtung heranschießenden Intercity noch übertönt. Dann heben sich die Schranken. Der Lieferwagen rumpelt nach Diebzig davon. Bis der nächste Zug kommt, herrscht Totenstille.
Spektakulär ist am Dornbocker Bahnübergang auf den ersten Blick nichts: Zwei Halbschranken, die einen Kilometer hinter dem Ortsausgangsschild verloren in der Landschaft stehen, ein graffitiverzierter Schaltkasten, und ein verwilderter Birnbaum, der einst den Garten des längst eingesparten Schrankenwärters schmückte. In Sichtweite steht ein Gedenkstein, der an die erste Fahrt eines »Dampfwagenzuges« auf »Anhalts Fluren« am 9. Juni 1840 erinnert.

Rechnung für zehn Jahre alten Bau
Schließlich gibt es noch einen Haufen Bauschutt. Der zeugt davon, dass die Schienenquerung an der Bahntrasse zwischen Halle und Magdeburg modernisiert worden ist. »Zehn Jahre ist das her«, erinnert sich Norbert Krieg, der ehrenamtliche Bürgermeister von Dornbock, und redet sich in Rage. Der Bahnübergang, schimpft der hagere Mann mit dem Schnauzbart, während er seine Zigarette in den Aschenbecher knüllt, »wird uns in die Pleite treiben«.
Krieg sitzt in seinem Büro im »Dorfgemeinschaftshaus«, wie auf der hellgelb getünchten Fassade zu lesen ist. Hellgelb ist auch der Ordner, den er auf dem Tisch zu liegen hat. Zwischen den vom Blättern zerfledderten Pappdeckeln hat der Bürgermeister einen Vorgang gebündelt, der ihn kurz nach seinem Amtsantritt im Juni 1994 zu beschäftigen begann und seither nicht mehr losließ: die Erneuerung des Bahnübergangs am Schienenkilometer 37,870. Abgeheftet sind Briefwechsel, Protokolle, Zeitungsartikel und - Rechnungen. Die jüngste datiert vom September dieses Jahres und stammt von der DB Netz, der Infrastruktur-Tochter der Deutschen Bahn AG. Für »Maßnahmen an einem Bahnübergang gem. Par. 13 EWG« werden der Gemeinde in Rechnung gestellt: 160 411,35 Euro. »Das Geld«, sagt Krieg knapp, »haben wir nicht.«
Dornbock ist - mit Verlaub gesprochen - ein Nest. Entlang der mit Katzenköpfen gepflasterten Hauptstraße und einiger unbefestigter Wege, auf denen Autoräder in tiefe Löcher sinken, stehen gut 100 Häuser. Ende 2003 wies die amtliche Statistik exakt 371 Einwohner aus; seither, sagt der Bürgermeister, »sind es wieder ein paar weniger geworden« - wie in jedem Jahr seit seiner Amtsübernahme, als in Dornbock noch 432 Menschen lebten. »Einige sind gestorben oder ins Pflegeheim gegangen«, sagt Krieg, »und die Jungen sind weggezogen.« Ein Wunder ist das nicht. Zwar wurde im Dorfgemeinschaftshaus ein Jugendclub eingerichtet, in dem sich die verbliebenen rund 20 Jugendlichen des Ortes treffen. Im Keller gibt es einen Tischtennisraum. Auf dem Dorfplatz stehen eine Kegelbahn und eine Bühne, auf denen bei Festen der Freiwilligen Feuerwehr oder anderer Vereine sicherlich die Post abgeht. An normalen Tagen aber wirkt Dornbock wie ausgestorben. Den Kindergarten hat Krieg schon 1994 dicht gemacht - »eine meiner ersten Amtshandlungen«. Zur Schule fahren die Kinder in Nachbarorte. Die Konsumgaststätte schloss im Oktober 1990; der Versuch einer Wiederbelebung scheiterte nach nur drei Monaten an mangelnder Kundschaft. Der Dorfladen hielt zwar länger durch. Doch seit drei Jahren sind die Rentner im Ort auf Verkaufswagen angewiesen, die alle paar Tage an der Hauptstraße halten.
Für die Dorffinanzen ist der anhaltende Wegzug der Jugend ebenso fatal wie der völlige Mangel an örtlichen Wirtschaftsunternehmen. »Als Bürgermeister«, sagt Krieg, »bin ich hier der größte Arbeitgeber.« Er beschäftigt einen Gemeindearbeiter und ein Dutzend ABM-Kräfte, die rund um Dorfteich und Friedhof Unkraut zupfen. Daneben weist das Gewerbeverzeichnis für Dornbock nur noch einen Elektroinstallationsbetrieb aus, ein Familienunternehmen, das immerhin einen Lehrling beschäftigt. Eine Handvoll Dornbocker arbeitet in zwei Agrarbetrieben in den Nachbarorten, die zusammen 30 Beschäftigte haben. Andere pendeln nach Köthen, Magdeburg oder Österreich. Die meisten sind, wie auch der Bürgermeister selbst, seit Jahren arbeitslos.
Große Sprünge kann der Ort nicht machen. Der Haushalt für 2003 weist im Verwaltungsteil 276 000 Euro aus - Geld, das zum Großteil für Umlagen an die Verwaltungsgemeinschaft, den Kreis, für Kindergarten und Schule gebunden ist. Im Vermögenshaushalt stehen 234 000 Euro, von denen zwei Straßen gepflastert werden. Für 2004 ist wegen sinkender Landesüberweisungen und steigender Kosten ein Minus von 70000 Euro abzusehen - mindestens. Das Defizit könnte auf ein Mehrfaches steigen, wenn die Bahn ihre Forderung durchsetzt. Laut Rechnung ist das Geld bis nächsten Dienstag zu überweisen.
Bislang mischt sich der Schreck im Dorf noch mit Unglauben - schließlich, sagt Krieg, habe man nach vielen Diskussionen in den Jahren 1994/95 nichts mehr von der Bahn gehört. Das Unternehmen hatte damals zwei erst 1988 in Betrieb genommene Halbschranken ersetzt. Die DDR-Anlage, die einst »zur Erhöhung der Fahrsicherheit und der Einsparung eines Arbeitsplatzes« an Stelle einer handbetriebenen Schranke errichtet worden war, entspreche »in ihrem Erscheinungsbild« nicht mehr der Eisenbahnbau- und Betriebsordnung, teilte die Bahn mit. Dornbock sollte eine »Kreuzungsvereinbarung« unterzeichnen - und sich zu einem Drittel an den Kosten beteiligen.
Rechtlich ist dagegen wenig einzuwenden. In der Bundesrepublik gilt das »Eisenbahnkreuzungsgesetz« (EkrG). Danach werden die Kosten für nötige Bauten zwischen der Bahn, dem Bund und dem Eigentümer der Straße aufgeteilt - jeder Beteiligte zahlt ein Drittel. Weil die Holperpiste nach Diebzig der Gemeinde Dornbock gehört, wird diese zur Kasse gebeten - mit umgerechnet 430 Euro je Einwohner. Der Bürgermeister des Dorfes, das nicht einmal über einen Bahnhof verfügt, übt sich in Galgenhumor: Früher, erzählt er, gab es in Dornbock drei Schrankenanlagen. »Zum Glück«, sagt Krieg, »hat die LPG später zwei Wege umgepflügt.«
Auch mit einer Schranke hat es für Dornbock zu fragwürdiger Berühmtheit gereicht. Kurz nach dem Schrankenbau gaben sich Journalisten in Kriegs Büro die Klinke in die Hand. »Neue Schranken - Dorf pleite«, titelte damals ein Boulevardblatt; auch ND berichtete. Die Provinzgeschichte schaffte es sogar in den Bundestag. 1995 beantragte die PDS eine EkrG-Novellierung. In der Begründung hieß es, vor allem in Ostdeutschland habe sich eine »Praxis eingebürgert«, wonach Kommunen »sachlich willkürlich« an der Finanzierung des Schienenausbaus beteiligt würden. Der Gesamtumfang für Ostdeutschland wurde auf damals 500 Millionen Mark beziffert. Doch der Versuch, eine Kostenbefreiung zu erreichen, scheiterte. Dennoch herrschte in Dornbock neun Jahre Stille.
Jetzt aber liegt die Forderung wieder auf dem Tisch - gerade rechtzeitig, um nicht zu verjähren. Der Bürgermeister, dessen Vater einst als Streckenläufer bei der Bahn arbeitete, ist wild entschlossen, auf die Barrikade zu gehen. Den Städte- und Gemeindebund will er ins Boot holen wie den Landkreis, der im Fall von zwei Bahnübergängen selbst betroffen ist. Auch die PDS-Fraktion im Landtag hat Krieg, der selbst PDS-Mitglied ist, in die Spur geschickt. Bei der Bahn hat er Einspruch eingelegt.

Bahn rückt von Forderung nicht ab
Ob die Bemühungen etwas fruchten, ist ungewiss. Zwar kann man bei der Deutschen Bahn den dörflichen Unmut über die »große Belastungen« nachvollziehen. Ähnliche Beschwerden aus anderen Gemeinden sind dort an der Tagesordnung. Derzeit streitet die Bahn etwa mit dem Saalkreis um eine Brücke an der neuen S-Bahn-Trasse zwischen Halle und Leipzig. Weil eine Einigung nicht fristgerecht zu Stande kam, wird nun zunächst eine Halbschranken-Anlage gebaut. Die stellt den Mindeststandard für alle Kreuzungen dar, an denen häufiger befahrene Straßen und Züge mit Tempo 160 zusammentreffen.
Die Bahn betont ihrerseits aber auch, dass sie angesichts der gesetzlichen Lage »keinen Ermessensspielraum« hat, wie Jörg Bönisch, Sprecher der DB in Sachsen-Anhalt, betont. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass Dornbock die Kreuzungsvereinbarung 1994 gar nicht unterschrieben hat und die DB in »Vorleistung« gegangen war: »Wir können beim Ausbau von Strecken nicht auf jede einzelne Gemeinde warten.« Bönisch rechnet nun mit einer juristischen Auseinandersetzung, verweist aber auch darauf, dass die Gemeinde Fördergelder beantragen und ihren Kostenanteil so um drei Viertel reduzieren könne. Der Versuch werde unternommen, sagt Krieg: »Aber die verbleibenden 40000 Euro sind immer noch ein dicker Brocken.«

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