»Ach, da haben wir wieder solche Aufgaben gelöst«

Im deutschen Mathematik-Unterricht muss man mit allem rechnen - sogar mit dem Schlimmsten

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.

PISA 2 bescheinigt den 15-Jährigen in Deutschland mittelmäßige Mathematik-Kenntnisse. Die Betroffenheit in der Politik darüber, dass das Land von Adam Riese so viele junge Bildungsanalphabeten hervorbringt, ist groß. Dabei ist dieser Befund auch schon vor PISA bekannt gewesen.

Manfred Prenzel weiß, wovon er spricht. Im letzten Jahr hatte der Direktor des Kieler Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung auf nationaler Ebene die Federführung für PISA2 übernommen. Zwei Tage nachdem die Studie offiziell vorgestellt wurde, meldete er sich in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa zu Wort. Veränderungen brauchen Zeit, so seine Mahnung an alle Beteiligten in der derzeitigen PISA-Diskussion. Schließlich gehe es nicht darum, »eine Goldmedaille zu erwerben, sondern es geht darum, unseren Nachwuchs auf die Zukunft vorzubereiten.« Das ist richtig, doch die öffentliche Diskussion hat die Wissenschaftlerzunft längst schon ins Abseits gestellt und den Griff nach der PISA-Goldmedaille - zumindest aber nach Edelmetall - zur nationalen Aufgabe erklärt. Als gestern die Freie Universität (FU) und deren Präsident Dieter Lenzen zusammen mit dem Vorgänger Prenzels, dem Leiter des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Jürgen Baumert, zum PISA-Forum lud, war das Interesse der Medienvertreter gering. Der Augenblickswahrnehmung ist der Ranking-Platz Deutschlands wichtiger als die Frage, wie in Deutschlands Schulen gelernt wird, warum das Falsche von den falschen Lehrern unterrichtet, und diese von den falschen Professoren ausgebildet werden. Darum ging es, kurz gesagt, am Mittwoch dieser Woche in dem zweistündigen Expertengespräch an der Berliner Freien Universität. Herbert Brünning vom Institut für Statistik und Ökonometrie der FU, wusste ein Lied davon zu singen, wie es um die mathematischen Fähigkeiten der Studierenden steht. Seit mehr als 20 Jahren testet er Studienanfänger der Wirtschaftswissenschaften auf ihre Kenntnisse in Statistik und Stochastik. »Die Ergebnisse haben sich rapide verschlechtert«, berichtete Brünning. Die Durchfallquote stieg von knapp 30 auf mittlerweile über 70 Prozent. Für Jürgen Baumert ist das kein Zufall. Wahrscheinlichkeitsrechnung stehe zwar in deutschen Mathe-Lehrplänen, werde allerdings in der Mittelstufe - also in der Schülergruppe, die bei PISA getestet wurde - kaum im Unterricht behandelt. Na bitte, so muss man nur dafür sorgen, dass der Lehrplan auch ordentlich abgearbeitet wird, dann klappts auch mit PISA. Weit gefehlt, betont PISA-Forscher Baumert. Das Problem sei der Unterricht selbst. Mathe-Lehrer täten sich sehr schwer damit, Aufgaben so zu formulieren, dass sie anwendungsorientiert seien und damit auch von schwächeren Schülern gelöst werden könnten. Genau darauf komme es in der Stochastik aber an, meinte Bettina Hannover von der nationalen PISA-2003-Expertengruppe. Stark abstrahierende mathematische Symbole und Formeln machten aus der Mathematik eine »Geheimwissenschaft für Eingeweihte«. Die Mathematikdidaktikerin Christine Keitel-Kreidt bestätigte diesen Befund. Wenn man nach einer Mathematik-Stunde die Schüler befrage, was sie denn im Unterricht durchgenommen hätten, dann bekomme man oft folgende Antwort »Ach, da haben wir wieder solche Aufgaben gelöst.« Für Christine Keitel-Kreidt liegt die Ursache hierfür in der didaktischen Konzeption des Mathematik-Unterrichts. Lehrinhalte würden in Teilbereiche »zerhackt« und diese anschießend ad acta gelegt. Schülern falle es somit schwer, einen Zusammenhang zwischen der Mathematik und der realen Welt zu erkennen. Mathe-Lehrer neigen dazu, so Keitel-Kreidt, den schlechten Mathe-Unterricht, den sie selbst erlebt haben, zu reproduzieren. Schließlich waren sie selbst ja recht erfolgreich in diesem System, »warum sollten sie es also ändern?« Ja, warum eigentlich? Müssten sie nicht in ihrer Ausbildung lernen, wie es anders gehen kann? Im Prinzip ja, meinte FU-Präsident Dieter Lenzen, im Hauptberuf Erziehungswissenschaftler. Doch an den Hochschulen würden die Lehrer in der Regel von Lehrkräften ausgebildet, die selbst ihre jeweilige Fachwissenschaft wichtiger nähmen als die Didaktik. So pflanzt sich also von einer Lehrergeneration zur nächsten das fort, was Christine Keitel-Kreidt »ein Sozialisations-Problem« nennt. Wer Schülern die Welt der Mathematik, die die Welt um uns herum ist, anschaulich erklären kann, macht sich der wissenschaftlichen Halbbildung verdächtig. Erklärungskompetenzen aber sind nicht unbedingt Einstellungsvoraussetzungen für den Lehrerberuf. Im deutschen Bildungssystem, so Dieter Lenzen, halte sich das Vorurteil hartnäckig, dass der, der einen Stoff gut beherrsche, ihn auch gut unterrichten könne. »Eigentlich wissen wir schon lange und auch ohne PISA, woran es im deutschen Bildungssystem hapert«, beschied nach Ende der Veranstaltung eine Erziehungswissenschaftlerin den ND-Redakteur unter vier Augen. Solange ein Schulsystem nicht grundlegend geändert werde, in dem die Hauptschule längst eine Restschule für die Verlierer im Bildungskampf ist, solange werde es auch schlechte PISA-Ergebnisse geben. Der Erziehungswissenschaftler Hans Merkens untermauerte diese These. Der Anteil der Hauptschüler, die mit 15 Jahren erst in der 7. oder 8. Klasse seien, sei beim PISA-Test »sehr hoch gewesen«. Diese Jugendlichen haben eine Verliererbiografie, die sie stigmatisiert und demotiviert und sie mit jedem neuen PISA-Test weiter ins Hintertreffen geraten lässt. Vor PISA2 wurden in einigen Bundesländern an den Gymnasien PISA-Aufgaben gezielt trainiert. Deshalb, so musste Jürgen Baumert zugeben, haben sich die schwächeren Gymnasiasten im neuen PISA-Test auch leicht verbessert. PISA-Aufgaben zu Mathematik seien im Gegensatz zu denen zur Lesefähigkeit exerzierbar - allerdings in der Regel nur an den Oberschulen, da dort »ein gutes Lernmilieu« herrsche und damit die Grundlagen für Leistungssteigerungen durch Üben vorhanden seien. »In Hauptschulen ist das nur schlecht möglich.« Also kurzum: Wir müssen die Dreigliedrigkeit abschaffen. Über dieses Thema wollte man aber in illustrer Wissenschaftlerrunde gar nicht erst offen diskutieren, denn, so Dieter Lenzen sinngemäß, als die Sprache auf die Schulstruktur kam, dies sei ein sehr heißes Eisen. Ein heißes Eisen, müs...

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