Zeitweise wieder ein Museum

»Gegenwelten«: Das 20. Jahrhundert in der Neuen Nationalgalerie

  • Peter H. Feist
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.
Die Berliner Neue Nationalgalerie besinnt sich nach längerer Zeit wieder einmal darauf, dass sie keine Kunsthalle für Ausstellungsgastspiele ist, sondern ein Museum mit einem hervorragenden, international renommierten Besitz an Kunst, die man dort zu sehen erwartet. Allerdings passt ohnehin immer nur ein kleiner Teil ihres Bestandes in ihre Säle. Dennoch sind dort jetzt auch eine Menge Arbeiten zu sehen, die andren Abteilungen der Staatlichen Museen oder Privatsammlern gehören, und in drei Monaten ist es wieder vorbei mit dem, was eigentlich wieder eine Sonderausstellung ist und kein dauerhaft meinungsbildender Beitrag zu den Vorstellungen über die Kunst der letzten hundert Jahre. Dabei ist die Präsentation »Gegenwelten« auch ein Gegenentwurf zu dem Kanon von Kunst des 20. Jahrhunderts, den das MoMA in New York mit weltweitem Erfolg geprägt und kürzlich auch dem nach Berlin geströmten Publikum demonstriert hat. Das will nicht besagen, dass es da keine Übereinstimmungen gäbe. Die Aufnahme von Hauptwerken US-amerikanischer Kunst in den Bestand der (West-)Berliner Nationalgalerie gehörte zu den vielen Verdiensten des vor kurzem verstorbenen langjährigen Direktors Dieter Honisch, dessen in der jetzigen Ausstellung gedacht wird, und etwas von der Kunst aus Deutschland zählt auch in New York zu den unangefochtenen Werten. Aber die Berliner Nationalgalerie ist selbstverständlich im Recht, wenn sie den besonderen Akzenten, die deutsche Künstler neben den Franzosen, Spaniern, Italienern und später Amerikanern in den Verlauf der neueren Kunstgeschichte setzten, auch eine besonderer Aufmerksamkeit widmet. Diese gilt sogar Bildern, die in der DDR entstanden: Arbeiten von Heisig, Mattheuer, Tübcke und der Fotografin Evelyn Richter. Die Auswahl ist dann so konzipiert, dass Gedankenlast, Gesellschaftskritik und schuldbewusste Fragen an die Geschichte den spezifischen deutschen Ton ausmachen, den auch Dix, Grosz und Beckmann anschlugen, und für den in den letzten Jahrzehnten Beuys und Anselm Kiefer die imponierend vertretenen Großmeister waren bzw. sind. Die Raumstruktur des Gebäudes erlaubt niemals einen kontinuierlichen Rundgang, nach dem die Besucher vielleicht etwas schlauer hinsichtlich des Verlaufs der Kunstgeschichte und -kämpfe wären, sondern kann nur Ballungszentren, Kontraste oder gleitende Übergänge zwischen verschiedenartigen künstlerischen Absichten veranschaulichen. Über eine lange Blickachse lässt sich sogar der Anfang in Gestalt von Ferdinand Hodlers agitierendem »Redner« mit dem Ende bei Mattheuers »Mann mit Maske« verknüpfen. Ehe man aber den Rundgang einigermaßen chronologisch beginnen kann und von Hodler, Munch, Rodin, Lehmbruck und einem Jugendstilschreibtisch Henry van de Veldes zu einem großartigen Ensemble von Bildern der »Brücke«-Expressionisten gelangt, markiert schon im Vorraum Joseph Beuys das »Ende des 20. Jahrhunderts« mit Steinblöcken und lässt seine bei einer Aktion aufgezeichnete brabbelnde Stimme über dem Schiefertafelstapel der »Richtkräfte« ertönen. Im Rücken des Besuchers dräuen das bleierne, verschrottende Flugzeug und furios gemalte Vergangenheitsdeutungen von Anselm Kiefer, und der helle Mittelsaal zieht den Besucher erst einmal in eine wahre Ehrengalerie für Andy Warhol, dessen großformatige Werke als Leihgaben der Sammlung Marx normalerweise im Museum Hamburger Bahnhof hängen. Warhols spätes, packend komponiertes, expressives Bild »Hammer und Sichel« aus der Phase seiner Rückkehr von Fotosiebdruck und Film zur Malerei, das unweigerlich die politische Symbolbedeutung des Motivs mitschwingen lässt, ist für mich einer der Belege dafür, dass der Titel der Ausstellung dieser eigentlich widerspricht. Abgesehen davon, dass ein Kunstwerk immer als etwas anderes von der Realität abgehoben wird, zeichnen sich die hier ausgestellten Werke vorwiegend gerade dadurch aus, dass sie keine Art von Gegenwelten imaginieren, also auch weitgehend die Utopien und Entwürfe von einem »neuen Menschen« ausblenden, sondern sich intensiv in die gegenwärtigen Realitäten verbeißen und einmischen. Den Realitätsbezug von Kriegskrüppeldarstellungen von Dix unterstreichen sogar, ein wenig simpel, daneben gelegte echte Prothesen. Allenfalls Bestrebungen, das reale Chaos durch die Konzentration auf reine Farbwirkungen oder minimalistische Ordnung elementarer Formen überwinden zu wollen, mögen als Gegenwelt zu verstehen sein. Die Wiederbegegnung mit dem um Leihgaben aus den Sammlungen Otto van de Loo, Erich Marx, Egidio Marzona und Friedrich Christian Flick (ein Bild von Neo Rauch aus Leipzig) ganz wesentlich bereicherten Berliner Museumsbesitz wird durch die Begegnung mit Neuerwerbungen ergänzt. Der Verein der gut betuchten Freunde der Nationalgalerie, der schon die Kosten für die Ausstellung trug und dem verarmten Staat die Restaurierung der Räume seines Staatlichen Museums bezahlen musste, kaufte außerdem zwei Plastiken von Rudolf Belling, eine die Besucher irritierende, tropfenschleudernde Installation von Rebekka Horn (»Die Liebenden«) und die 96-teilige, auf Fotos beruhende Bilderwand »Antlitze 1972-2000« von Jürgen Klauke. Dass auf die maskierten oder ausgelöschten Gesichter von Terrorverdächtigen ein roter (!) Schein von einem gegenüber hängenden monochromen Gemälde von Rupprecht Geiger fällt, mag Zufall sein oder eine kleine antikommunistische Bosheit der Kuratoren. Es gibt viel zu bewundern, viel kritisch zu befragen - und viel zu vermissen in dieser sehenswerten Ausstellung von rund 300 Gemälden und Skulpturen und rund 150 Zeichnungen, Zeitschriften und Realien in Vitrinen. Wann weiteres aus der Nationalgalerie zu sehen sein wird, bleibt abzuwart...

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