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430 Stunden Leid und Tod

Der Auschwitz-Prozess - vom Fritz-Bauer-Institut auf DVD gebrannt

  • Guido Sprügel
  • Lesedauer: 4 Min.
»Die gegen mich erhobenen Schuldvorwürfe kann ich mir nur so erklären, dass mir eine Welle des Hasses entgegenschlägt.« Unschuldsbeteuerung eines Mörders, das Schlussplädoyer des ehemaligen SS-Oberscharführers Wilhelm Boger im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess. Er war SS-Aufseher, der in Auschwitz die berüchtigten »Blockentleerungen« vornahm, ein nach ihm benanntes Folterwerkzeug erfand und von den Häftlingen als »bei weitem der Grausamste« beschrieben worden ist. Im Dezember 1963 war im Plenarsaal des Frankfurter Stadtparlaments der erste Auschwitz-Prozess gegen 22 Angeklagte eröffnet worden. Im August 1965 verkündete das Gericht seine Urteile. Es war der erste Versuch der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen im Vernichtungslager Auschwitz, über 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Erst auf hartnäckiges Insistieren des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer war der Prozess zu Stande gekommen. Und auch wenn dieser heute als Wendepunkt in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland nach jahrelangem Verschweigen gilt, rückblickend ist manche Unzulänglichkeit kritisch zu vermerken. Nicht der millionenfache Mord stand zur Anklage, den Angeklagten mussten individuell begangene Morde nachgewiesen werden. Die Beteiligung am Massenmord wurde als Gehilfentätigkeit gesehen und nur als »Beihilfe zum Mord« geahndet. Von den 20 Angeklagten - zwei Angeklagte schieden aus Krankheitsgründen während des Prozesses aus - wurden nur sechs zu lebenslanger Haft verurteilt, elf erhielten Haftstrafen zwischen dreieinviertel und 14 Jahren; drei Angeklagte wurden aus Mangel an Beweisen frei gesprochen. Fast alle Verurteilten kamen bereits nach wenigen Jahren auf Grund von Haftverschonung oder Haftunfähigkeit wieder auf freien Fuß. Die DVD »Der Auschwitz-Prozeß«, erarbeitet vom Fritz Bauer Institut in Frankfurt (Main), bietet Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente. Das gesamte Material hätte Bände gesprengt. Nun aber sind hier erstmalig über 50000 Seiten Akten und knapp 430 Stunden umfassende Tonbandmitschnitte auf eine einzige DVD gebannt. Über Such- und Markierungsfunktionen gelangt der Benutzer schnell an die ihn interessierende Stelle. Der Veranschaulichung des immensen Stoffs dienen mehr als 500 Illustrationen, Lagerpläne, Karten und Fotos. Lesend und hörend nachzuerleben sind die Hauptverhandlung, die Zeugenvernehmungen (in elf Sprachen), die Schlussworte der Angeklagten, die Urteile. Dem heutigen Prozessbeobachter per DVD stehen noch 40 Jahre danach die Haare zu Berge über das hier zu erfahrende, alle Vorstellungskraft sprengende Grauen - und den Zynismus der Angeklagten. Das Schwurgericht hörte 357 Zeugen, darunter 211 Überlebende des KZ Auschwitz. Sachliche und höchst emotionale Berichte wechseln einander ab. Detailliert beschrieben die Zeugen, mitunter deutlich von dem Erlebten gezeichnet, ihre Leiden. Makaber, aber als Zeugen kamen auch ehemalige SS-Leute wie Obergruppenführer Dr. Werner Best, der die Deportation der dänischen Juden organisierte, zu Wort - zum Thema »Befehlsnotstand«. Die Angeklagten wirkten gelassen, ungerührt und stritten - bis auf wenige Ausnahmen - die ihnen zur Last gelegten Untaten ab. Wenn die Beweislast gegen sie jegliches Leugnen als Lüge überführte, rechtfertigten sie sich mit dem Verweis darauf, zufällig am Ort des Geschehens gewesen zu sein. Boger erdreistete sich, zu behaupten, dass die ihm vorgeworfenen Morde »frei erfunden« seien. Der zu lebenslanger Haft verurteilte ehemalige SS-Oberscharführer Josef Klehr, Leiter des Vergasungskommandos (Desinfektoren), beschwor in seinem Schlussplädoyer, »als kleiner Mann kein Herr über Leben und Tod dieser unglücklichen Menschen« gewesen zu sein. Er war jedoch nicht nur für die Massentötungen in den Gaskammern verantwortlich, er hatte auch höchstselbst Häftlinge mit Phenolinjektionen ermordet. Und er war Herr über Leben und Tod bei den Selektionen an der Rampe. Auch der ehemalige SS-Oberscharführer Bruno Schlage, Arrestaufseher im berüchtigten Block 11 des Stammlagers und an Erschießungen vieler Häftlinge beteiligt, wies jedwede Schuld von sich, bemitleidete sich selbst und beklagte die »Vernichtung deutscher Gefangener« nach dem Krieg. Fritz Bauer hatte angesichts des Zynismus der Täter schon 1965 nach einem Dichter gerufen, der »das ausspricht, was der Prozess auszusprechen nicht imstande ist«. Peter Weiss ist dies mit seinem Werk »Die Ermittlung« gelungen. Nun kann man auch mit Hilfe dieser DVD in tiefe Abgründe blicken. Sie ist für historisch interessierte Laien, aber auch für Experten ein unschätzbarer Fundus. DVD-ROM »Der Auschwitz-Prozess«, erschienen als Band 101 der Digitalen Bibliothek im Verlag Directmedia Publishing GmbH, 45. Erhältlich auch über ND-Bücherservice, Tel: 030/29390766.
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