Annäherung an das Unfassbare

Jetzt im Kino: »Stimmen aus dem Wald« von Limor Pinhasov und Yaron Kaftori Ben Yosef

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.
Zwei junge israelische Filmemacher reisen nach Ponar, einen kleinen Ort, zehn Kilometer westlich von Vilnius. Hier war von 1941 bis 1944 ein Hinrichtungsplatz, auf dem über einhunderttausend Menschen ermordet wurden, vor allem Juden. Den ganzen Tag über hörte man in der Umgebung die Maschinengewehre, Wagenladungen mit Kleidung und Schuhen wurden ständig abtransportiert. Es wurde nackt exekutiert, damit die Kleidung keine Löcher und Blutflecken bekommt. Wie stellt man sich heute diesem zynisch organisierten Wahnsinn? Dieser Film versucht etwas, an dem er scheitern muss. Er will nicht das Geschehen dokumentieren, denn die Fakten sind über sechzig Jahre danach bekannt. Die Frage der Filmemacher ist, wie die Menschen, die jahrelang in Hörweite der Maschinengewehre lebten, heute damit leben. Anlass waren geheime Aufzeichnungen eines Anwohners, die er, in Limonadenflaschen versteckt, im Garten vergrub. Bis auch er ermordet wurde. Yoron Kaftori Ben Yosef (geb. 1963 in Haifa) und Limo Pinahsov Ben Yosef (geb. 1972 in Tel Aviv) haben diese Flaschenpost als an sich adressiert verstanden und sind nach Ponar gefahren, mit den Nachbarn der Mordstätte zu sprechen. Wie sie das tun, verblüfft. Man könnte es selbstverständlich-freiheitsbewusst nennen, oder auch naiv. So klingen jedenfalls manche ihrer Fragen. Aber es ist durchaus erfrischend, dieses völlige Unverständnis für jede totalitäre Situation, in der das Leben des Einzelnen nichts zählt. Gut, wenn sich das jemand nicht vorstellen kann, möchte man fast sagen, wenn jemand die Atmosphäre der Angst nicht mehr mitzudenken vermag. Die Dorfbewohner reden sehr offen über die Vergangenheit. Auch sie fühlen sich als glückliche Überlebende. Es klingt fast so, als habe sie bisher niemand nach dem gefragt, was hier passierte. Zwei Welten treffen aufeinander. Die Filmemacher fragen, vom Ort sichtlich schockiert - die Gruben für die Massenhinrichtungen liegen einen Steinwurf entfernt im Wald -, wie sie heute hier nur leben könnten? Man versteht die Frage nicht, zuckt mit den Schultern - ist es woanders anders? Und was, so möchte man hinzufügen, bräuchte ein solcher Ort des Todes dringender, als den Mut von Menschen, gerade hier zu leben und Kinder zu bekommen? Nicht um etwas vergessen zu machen, aber um das Gebiet nicht auf ewig allein vom tausendfachen Mord besetzt zu lassen? Aber so denken die Filmemacher nicht. Sie wollen die Bewohner einer moralischen Mitschuld überführen, und diese pauschale Absicht verstimmt ebenso wie die für unangreifbar erklärte eigene moralische Position: »Ist es ebenso abscheulich, Zeuge eines unmenschlichen Unrechts gigantischen Ausmaßes zu sein und nicht einzugreifen, wie an diesem Unrecht teilzunehmen?... Instinktiv sagen wir uns, dass uns so etwas nie hätte passieren können. Wir hätten Stellung bezogen und etwas gegen diese schlimmsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit unternommen.« Ist es nun besonders bewundernswert oder besonders verdächtig, wenn sich jemand so sicher ist, was er in einer Situation, die einen selbstmörderischen Mut verlangt, wohl getan hätte? Die Filmemacher spitzen diese Logik noch zu: Warum haben die Dorfbewohner den Exekutionsplatz nicht gestürmt, sie sind doch in der Überzahl gewesen? Das sind Kinderfragen. Hat jemand von den Dorfbewohnern auf dem Markt Kleidung der Getöteten gekauft? Oft sind es bereits die Kinder, die derart nach dem damaligen Verhalten ihrer Eltern befragt werden. Manche zucken die Schultern, sagen etwas wie: Als ob es darauf noch ankäme, das ist doch völlig egal. Manche der Dörfler haben schnell gemerkt, was die Interviewer hören wollen (»Nein niemals, das tut man nicht«) - aber auf diese Antworten ist nicht viel zu geben. Kein Wunder, denn vielleicht provozieren die Fragen derartige Antworten. Vielleicht ist es auch die Hilflosigkeit der beiden jungen Israelis, ihre übergroße Befangenheit, sich an Dinge zu klammern, über die man sprechen kann - und darum über die Details des Exekutionsalltags zu schweigen. Zwei auf wunderbare Weise die Erschießungen Überlebende (ein damals siebenjähriges Mädchen darunter) erinnern sich, wie sie von ihren Mördern für tot gehalten wurden und wie sie dann nachts aus den Leichenbergen kriechen und von dem mit Stacheldraht umzäunten Exekutionsplatz fliehen konnten. Es ist nicht mangelnder Respekt für die Opfer, sondern, im Gegenteil, höchste Pflicht den Opfern gegenüber, solche schier unfassbaren Berichte akribisch zu prüfen. Aber das wird hier nicht getan. So lässt einen dieser Film mit...

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