Tausende ohne Unfallrente - dank Merkblatt 1317

Betroffene kritisieren politischen Skandal: Viele Ärzte und Professoren liegen mit der Industrie im Bett

  • Susanne Götze
  • Lesedauer: ca. 3.0 Min.

Wegen eines fehlerhaften ärztlichen Merkblattes wurden seit Jahren unzählige Anträge auf eine Unfallrente abgelehnt. Die Verantwortlichen sprechen von einem »Versehen«, während die Betroffenen Korruption wittern.

Der ehemalige Schreiner Peter Röder ist todkrank und hört doch nicht auf, für das Recht seiner Leidensgenossen zu kämpfen. Während seiner Ausbildung und später als Hilfsarbeiter in einer Schreinerei arbeitete er ohne Schutzmaßnahmen wie Handschuhe oder Mundschutz mit gesundheitsgefährdenden Lösungs- und Holzschutzmitteln sowie anderen leicht flüchtigen Substanzen. Trichlorethylen, n-Hexan, Pentachlor, Lindan und Polychlorierte Biphenyle machten den Mann schon nach einigen Jahren arbeitsunfähig. Heute leidet er an Herz- und Lungenschäden sowie Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Seine Forderungen nach einer Unfallrente wurden bis jetzt von der zuständigen Berufsgenossenschaft und Gerichten bis zum Bundessozialgericht abgelehnt. Vor acht Jahren gründete der 40-jährige die »Initiative kritischer Umweltgeschädigter«, um für die Anerkennung von berufsbedingten Krankheiten einzutreten. »Kraft habe ich nicht mehr, aber Mut, denn was sie mir nicht nehmen konnten, war der Geist«, sagte Röder gegenüber ND. Das lange Recherchieren hat sich gelohnt. Röder entdeckte fehlerhafte Gutachten im »Merkblatt für die ärztliche Untersuchung 1317«. Was harmlos klingt, hatte weitreichende Folgen für die meisten der durch neurotoxische Lösungsmittel Erkrankten. Laut Merkblatt würden lösungsmittelbedingte Erkrankungen spätestens nach drei Jahren wieder vollständig ausheilen. »Ein Fortschreiten der Erkrankung nach mehrmonatiger Expositionskarenz schließt eine Verursachung durch Lösemittel aus«, hieß es. Dass durch diese nachweislich fehlerhafte Formulierung vielen Opfern ihr Anspruch auf eine Entschädigung versagt wurde und Versicherungen sowie Arbeitgeber sich Forderungen in Millionenhöhe sparten, bedauert auch Hans-Joachim Woitowitz vom ärztlichen Sachverständigenbeirat der Bundesregierung. Der Irrtum des Beirates sei ein »Missgeschick«. Paradoxerweise hatte der Sachverständigenrat 1996 eine wissenschaftliche Begründung zu der als »neu« deklarierten Berufskrankheit 1317 (Polyneuropathie, Enzephalophatie) verfasst und war zu einer gegenteiligen Auffassung gekommen - dass »bei Funktionsstörungen oder Krankheiten des zentralen und peripheren Nervensystems nicht nur Besserungen, sondern auch eine Persistenz oder sogar Verschlechterungen nach Beendigung der Exposition möglich sind«. Einige Zeit später erst verfasste der gleiche Sachverständigenbeirat das besagte Merkblatt 1317, das den Ärzten sowie den Sozialgerichten zu Entschädigungsentscheidungen vorliegt. Unklar bleibt, warum dies jahrelang niemand bemerkte. Nachdem Peter Röder im Herbst 2003 diesen Beirat auf die »Fälschung« hinwies und im Winter 2003/2004 auch die Presse aufmerksam wurde, schaltete sich Ex-Sozialminister Norbert Blüm ein und sprach von »einer kleinen Gruppe gut organisierter Gutachter«, die mittels Fälschungen das Einzelinteresse der Versicherungen über das Allgemeinwohl stellten. Im Herbst 2004 hat der Sachverständigenrat die Aussagen des Merkblattes revidiert. Ab März 2005 soll die neue Fassung verfügbar und gesetzlich bindend sein. Aber die Zahl der unentschädigten Kranken ist strittig. Die Initiative kritischer Umweltgeschädigter spricht von jährlich rund 10000 Fällen seit 1984. Das wären nach Röders Schätzung bis 2003 rund 200000 berufsbedingt Geschädigte ohne Anspruch. In den letzten fünf Jahren hätten nur 60 Bürger eine finanzielle Vergütung bewilligt bekommen. Blüm bezifferte die Zahl der betrogenen Kranken auf mehrere Tausend. Woitowitz hingegen bestreitet die »völlig überzogenen« Darstellungen. Er orientiert sich an den Daten des Hauptverbands der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG). Danach sind es nur 1063 Erkrankungsfälle seit 1997, die laut altem Merkblatt keinen Anspruch erhalten hätten, und 444 Fälle, die Geld vom Verband erhielten. Die Verfasser des Merkblatts haben wohl keine Folgen zu befürchten. Röder zufolge geht der »Fehler« auf ein Sachverständigenbeiratsmitglied, den emeritierten Professor Johannes Konietzko, zurück. Der HVBG hätte gezielt darauf hingewirkt, dass Konietzko das Blatt verfasse, behauptet Röder. Ohne Überprüfung sei es veröffentlicht worden. Während Woitowitz von einem Versehen ausgeht, spricht Röder von politisch-moralischem Versagen und organisierter Kriminalität. Die »Freibeutermentalität« sei im Sachverständigenbeirat weit verbreitet, da viele Ärzte und Professoren mit der Industrie »in einem Bett liegen würden«. So würden Beiratsmitglieder, die Verträge mit Fotokopierherstellern hätten, Gutachten für die Schwellenwerte von Tonern erstellen. Andere pflegten Beziehungen zur Holzschutzmittelindustrie und verfassten Begründungen für Holzschutzmittelerkrankungen mit. »Die Merkblätter sind politische Instrumente zur Privatisierung des Gewin...

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