Die Strafe beginnt
Döblins Berlin Alexanderplatz in Hannover
Buchstäblich hinauswerfen muss man Franz Biberkopf aus dem Tegeler Gefängnis. Nach vier Jahren Haft wegen Totschlags an seiner Freundin Ida wird der ehemalige Transportarbeiter in das pralle Leben der Großstadt entlassen, nun arbeits- und wohnungslos. Berlin, 1928. Allemal ein blasser Abglanz des »goldenen« Jahrzehnts schimmert hier noch durch, und aus der allzu nahen Zukunft hallt uns schon das große Unheil entgegen. Dirnen, Gauner, Bauernfänger - Verführung und Verderben. Die Freiheit, in die Biberkopf gestoßen wird, begrüßt er mit den Worten: »Die Strafe beginnt«.
Jarg Pataki hat Alfred Döblins Roman »Berlin Alexanderplatz« am Staatstheater Hannover auf die Bühne gebracht. Die aufgeregte Vielstimmigkeit der Literaturvorlage übersetzt der Regisseur in schrilles Bühnentreiben. Nicht mehr als sieben Schauspieler verkörpern eine Fülle grell überzeichneter, von der Maske entmenschlichter Figuren. Dazwischen treiben lebensgroße Puppen ihr Unwesen, zu Wesen erweckt von Studenten der Berliner Schauspielschule »Ernst Busch«. Ein Chor kommentiert das Treiben mit Zitaten aus Döblins Roman, mischt in Gestalt todgeweihter Schlachthof-Schweine, hinternwackelnder Huren und grauer Großstadtbürger auf der Bühne mit.
Die Stadt ist ein waberndes Meer, das Menschen verschluckt wie Wassertropfen. Zwischen all den von fremder Hand gelenkten Puppen, auch denen aus Fleisch und Blut, ist Biberkopf (gespielt von Benjamin Höppner) die einzige mit einer Seele. Doch über einen eigenen Willen verfügt auch er nicht. Der Weg des zwar herzensguten, aber haltlosen, naiven Menschen ist vorgezeichnet: Sein Schwur, ein »anständiges« Leben zu führen, muss von der ersten Windböe hinweggefegt werden. Schneller, als er es wahrhaben will, gerät Biberkopf wieder auf die schiefe Bahn, in die Fänge wahrer Weiber und falscher Freunde. Unwissentlich in ein Verbrechen verstrickt, verliert er seine geschworene Unschuld - und seinen rechten Arm. Unentrinnbar scheint das Schicksal dieses von seiner Herkunft Gezeichneten. Jeder mögliche Weg zum »anständigen« Menschen verbaut. Durch die Mauern der Stadt, der Gesellschaft?
So sehr der Roman »Berlin Alexanderplatz« Milieustudie ist, so wenig ist sie nur dies. Alfred Döblin (1878-1957), im Hauptberuf Neurologe, zeigt den Menschen in einer Gefangenschaft, in die er zwar hineingeboren wird, der er sich aber auch widerstandslos ergibt. Und stellt die Frage nach dem Entkommen. Als Ausweg bleibt Biberkopf zum Schluss nur der Tod. Nicht als Ende aber wird dieser Tod akzeptiert, sondern nur als Tor in ein neues Leben.
Jarg Pataki ist der Gefahr, ein reines Metropolen-Spektakel zu inszenieren, entgangen, indem er zwei biblischen Gestalten zentrale Rollen zuweist. Die alle Welt verführende Hure Babylon, im Körper eines scharlachroten Pferdes, und der mahnende Prophet Jeremia, ganz in Schwarz und Weiß, üben sich an Biberkopfs Schicksalsfaden im Tauziehen. Nach über drei Theaterstunden hat Jeremia den Sieg errungen. V...
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