Die »Breslauer Apokalypse«
Von der Naziführung zur Festung erklärt, erlebte die schlesische Metropole ein anderes Kapitel Vertreibung
Für den in Wroclaw wohnenden Polen-Korrespondenten des ND ist es selbstverständlich, dass er unter den vielen diesjährigen 60. Jahrestagen jenen besondere Aufmerksamkeit widmet, die mit seiner Stadt verbunden sind. Seiner Stadt, die bis Mai 1945 Breslau hieß
Ende Januar 1945 erfasste die im Rahmen der Winteroffensive der Roten Armee durchgeführte Weichsel-Oder-Operation die schlesische Metropole. Am 27. Januar schlugen Einheiten der 6. Armee an der nördlichen Stadtgrenze ihre ersten Brückenköpfe. Es dauerte aber noch bis zum 16. Februar, bis die »Festung Breslau« völlig eingeschlossen war. An diesem Tag begann - wie es Horst G.W. Geist in seiner mehrbändigen Dokumentation festhielt - das zweite Kapitel der »Breslauer Apokalypse« (so der Titel). Das vorangehende, das erste Kapitel dieser Apokalypse enthält eine der für die Zivilbevölkerung schrecklichsten Episoden des Untergangs des »Dritten Reiches« und hat folgenden Hintergrund: Die Naziführung befahl, die Stadt zur Festung zu erklären und »bis zum letzten Mann zu verteidigen«. Der zum Reichsverteidigungskommissar auf diesem Gebiet ernannte 42-jährige NSDAP-Gauleiter Kurt Hanke ordnete am 19. Januar an, dass »waffenuntaugliche« Zivilisten - alle alten Menschen, Frauen und Kinder - aus der Stadt sofort in Richtung Opperau und Kanth (Oporów und Konty) und weiter westlich bis ins 120 Kilometer entfernte Lauban (Luban) evakuiert werden müssten. Auf den Transport per Eisenbahn konnten nur Schwerverwundete und Familien von Nazibossen rechnen: Auf dem Haupt- und dem Freiburger Bahnhof spielten sich infernalische Szenen ab. Der »Reichsluftschutzkeller«, wie Breslau in den letzten Kriegsjahren im Volksmund hieß, weil es von schweren alliierten Luftangriffen verschont blieb, beherbergte zu dieser Zeit etwa 700000 Menschen. Der Mehrheit stand also bei eisigem Frost (-16 bis -18 Grad) der Weg zu Fuß durch eine Schneewüste bevor. Wie der polnische Arzt Dr. Stefan Kuczynski (er lebte als deutscher Bürger seit Geburt in Breslau) in seinen Erinnerungen und auch mir gegenüber schilderte, gab es in diesen Tagen ungezählte Fälle, in denen ältere Leute lieber den Freitod zu Hause als den Marsch entlang der Autobahn wählten. Fest steht, dass am 20. Januar etwa 200000 Menschen in die tödliche Kälte getrieben wurden. Davon - nach »Breslauer Apokalypse« - haben zumindest 80000 den Treck nicht überlebt. Die vom »Volkssturm« gestellten Räumkommandos zählten entlang der Autobahn allein bis zum etwa 25 Kilometer entfernten Ort Konty je Kilometer bis zu 100 Leichen. Doch die »Evakuierung« dauerte an. Um die Stimmung unter den in der Stadt Verbliebenen wissen wir dank der Chronik, die Paul Peikert, der Pfarrer der St. Mauritius-Kirche, in jenen Tagen schrieb. Auch Alfons Buchholz, der geistliche Betreuer im St. Georg Krankenhaus, hinterließ eine objektive Beschreibung der Zustände. Deren literarische Darstellung findet sich in dem seinerzeit in der DDR herausgegebenen Roman von Werner Steinberg »Als die Uhren stehen blieben« wieder. Da wird auch die von Hanke befohlene standrechtliche Hinrichtung des Breslauer Bürgermeisters Dr. Spielhagen geschildert. Als Spielhagen am 28. Januar zu Hanke vorgelassen wurde und ihm die Bitte vortrug, Breslau zu einer freien Stadt zu erklären, statt es als Festung untergehen zu lassen, beschimpfte ihn der Reichskommissar als Feigling und ließ ihn auf der Stelle abführen. Nicht nur er wurde in diesen Tagen füsiliert oder gehängt: Jedes Anzeichen von »Defätismus« wurde von SS-Kommandos oder Wehrmachtsfeldgendarmerie mit dem Tode bestraft. Namen der Opfer von Nazifanatismus sind wenig oder überhaupt nicht bekannt. In der einschlägigen Literatur, die etwa von der Landsmannschaft Schlesien herausgegeben wurde, finden wir sie nicht. Einige erwähnt Wieslaw Wodecki, ein polnischer Schriftsteller, in seinem 1980 aufgeführten Theaterstück »Rzecz o zagladzie miasta«. Darin erhebt Wodecki schonungslose Anklage nicht nur gegen den Gauleiter, sondern auch gegen die Wehrmachts-Festungskommandeure, die Generäle Ahlfen und Niehoff, die in ihrem Untergangsamoklauf unter den Trümmern von Breslau Tausende von Menschen verrecken und eine Stadt mit fast tausendjähriger Tradition dem Boden gleich machen ließen. Nichts davon finden wir in der von Herbert Hupka herausgegebenen Sammlung von Erinnerungen ehemaliger Schlesier und Breslauer »Letzte Tage in Schlesien«, in denen etwa Ernst Hornig »die Schrecken des Jüngsten Tages« erst kurz vor Ende der »Festung Breslau« erkannte. Was vorher in den 100 Tagen der Kämpfe um die »Festung Breslau« (80 Tage völlig eingeschlossen) geschah, wurde in Hupkas Sammelwerk verschwiegen. Mehr noch: Ich selbst habe in den 70er Jahren erlebt, wie bei einer Schlesierkulturveranstaltung im Schloss zu Mainz die Generäle Ahlfen und Niehoff als deutsche Helden gefeiert wurden. Vermerken wir auch, dass in Alfred de Zayas »Anmerkungen zur Vertreibung der Deutschen aus dem Osten« die 80000 von Hanke in den Tod Getriebenen zu den »Vertreibungsverlusten« gezählt werden. Es gibt da noch ein charakteristisches Zeugnis vom Untergang der Festung Breslau. In den von Rolf Hochhuth 1977 kommentierten letzten Aufzeichnungen der »Tagebücher 1945« von Joseph Goebbels ist viel über die »heldenhafte Verteidigung« und über die »tobenden Straßenkämpfe«, aber auch folgendes zu lesen: »Die Rede Hankes aus Breslau hat in der deutschen Öffentlichkeit eine ungeheure Wirkung hervorgerufen. Endlich einmal hat ein nationalsozialistischer Gauleiter ein mannhaftes Wort gefunden, und zwar aus einer eingeschlossenen Festung, die er verteidigt...« Doch das Fürchterlichste klingt in diesen Aufzeichnungen wie folgt: »Es soll unser Ehrgeiz sein, dafür zu sorgen, dass, wenn in Deutschland in 150 Jahren eine gleiche große Krise auftaucht, unsere Enkel sich auf uns als das heroische Beispiel der Standhaftigkeit berufen können.« Es gibt wohl Gründe, solche »Enkel« - wie sie auch heißen mögen - nicht aus den Augen zu verlier...Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
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