Ein schlichtes Findlingsgrab für Gundi

Auch die letzte Ruhestätte des Menschen wird von der Kulturindustrie nicht verschont. Weiße Kreuze - Totenkultur in der Lausitz zwischen Vergessen, Experimentieren und Erinnern

Der Abschied von Gundi begann um zehn Uhr früh. Von der Trauerhalle brachten sie ihn zum andern Ende des Waldfriedhofs, wo sich die jüngsten Gräber aneinander reihten und nur wenige Schritte weiter die Autos über die Chaussee von Hoyerswerda zum Kohlekraftwerk Boxberg jagten. Gundi wurde in die Erde gesenkt, und wer an die Reihe kam, warf die üblichen drei Hände voll Erde über den Sarg. Manche griffen auch in die Blütenschale und ließen die Blütenblätter langsam in die Grube flattern, traurig und so lange, wie ihnen blieb, bis der nächste nachdrängte, um Abschied zu nehmen.
Für Bodo Tannenhauer war das nicht nur der bis heute größte Auftrag. Der Mann, den er unter die Erde zu bringen hatte, war in der gleichen Stadt aufgewachsen wie er und gehörte zu seiner Generation. Viele seiner Kunden kennt Tannenhauer persönlich, manche waren früher schon Kunden bei ihm, bevor er Bestattungsunternehmer wurde.
Allerdings sind Erdbestattungen für die Bergarbeiterstadt nicht alltäglich. »Die meisten werden eingeäschert«, sagt der Bestatter Tannenhauer ohne jede Wertung, und längst kommen zu den meisten Beerdigungen nicht so viele Menschen wie zu Gundermanns Begräbnis. Die Familienbande reißen zusehends und immer öfter wird anonym bestattet. »Die Urnen werden in eine Wiese versenkt und niemand kann später sagen, wo der Verstorbene ruht.« Die Wiese ist das Grab, und wer Blumen hat, steckt sie in eine Vase, die am Gitter hängt. Die verwelkten werden von den Gärtnern später herausgenommen, wenn die Angehörigen längst wieder in Herne, München oder Erfurt sind, irgendwo in der Ferne, als die Nomaden der Arbeitswelt und in der Tradition ihrer Eltern.
Goldgräberstädte beschleunigen den Verfall der Sitten, das schlichte Vergessen von einer Generation zur nächsten wird normal. Im Puls des hastigen Aufbaus ist der Tod nicht vorgesehen, allenfalls als Unfall. Später dann verfällt die Stadt selber jenem Prozess, und mit den Beerdigungen ihrer Menschen wird zugleich die Stadt entsorgt. Jetzt, wo die Stadt sich auflöst, greifen die Veränderungen auch aufs Land über. Über Jahrzehnte waren die Arbeiter wegen des »Schwarzen Goldes« in die Lausitz gekommen, nun ziehen auch die Lausitzer los. Wer geht, lässt die Erinnerung zurück und wer bleibt, muss den Tod rationeller verwalten.
»Seit 1996 in Bluno die neue Halle gebaut wurde«, sagt Helmut Kurjo, der im Trachtenverein die künstlerische Leitung übernommen hat, »werden die Verstorbenen nicht mehr zu Hause aufgebahrt. Früher kamen die Verwandten und haben am Vorabend der Beerdigung noch zu Hause am Sarg gesungen.« Heut bringt Bodo Tannenhauer seinen CD-Player mit, wenn sich die Angehörigen keine Kapelle leisten können. Und Tracht tragen auch zur Beerdigung nur noch die Alten.
In Rohne, wo der Bergbau das sorbische Leben nicht ganz so stark zerstört hatte, hat Lenka Noack die Tradition aufrecht gehalten. »Es war bei uns Brauch«, sagt die Frau, die noch bis vor wenigen Jahren die erste Vorsängerin im Dorf war, »dass der Verstorbene in der guten Stube aufgebahrt wurde. Er wurde ganz neu oder wenigstens in der Kirchgangstracht eingekleidet. In die Hand wurde das Gesangbuch, oder manchmal auch die Bibel gegeben, oder, je nach Alter bei Kindern Blumen oder auch ein kleines Kruzifix.« Drei Tage lang wurde der Leichnam in der guten Stube aufgebahrt. Am Tage war sie verschlossen, aber wenn Angehörige Abschied nehmen wollten, wurden Stube und Sargdeckel geöffnet. »Am Abend vor dem Begräbnis kamen dann die Singemädchen, sechs, die gut singen konnten - und wir haben drei Stunden gesungen«, sagt die Kantorka, »nur Kirchenlieder. Die Angehörigen schwiegen so lange, die haben dann hinterher noch das Vaterunser gesprochen. Dann wurde der Sarg auf den Hof getragen und noch mal abgestellt, damit der Tote Abschied nehmen konnte.« Mit zwei Pferden vor dem Leichenwagen gings anschließend zum Friedhof. Wie überall warfen sie dem Toten die drei Hände voll Erde nach. In Rowno/Rohne sagen dabei heut noch die nächsten Angehörigen: »Njech jo tebi serbska zemja leka - möge dir die sorbische Erde leicht sein.«
Ein noch älterer Brauch - die weiße Farbe als Zeichen tiefer Trauer - hat sich weitgehend verloren. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde er von den Deutschen verboten. In Blun/Bluno findet sich noch gelegentlich das weiße Stirnband unter der schwarzen Trauertracht, und nur im sorbischen Ralbicy/Ralbitz deuten sich Tendenzen der Wiederbelebung an. Besonders traditionsbewusste Mädchen kleiden sich zu Allerheiligen wieder in die weiße Tracht, und immer schon wurden die Ralbitzer Grabkreuze weiß angestrichen. Auch in den Nachbargemeinden wird bei Beerdigungen gelegentlich wieder das weiße Grabtuch über der Tracht getragen. Ob das allerdings schon zu einer Renaissance der slawischen Riten reicht, ist zu fragen. Zu groß war über Jahrzehnte die Dominanz der Zugewanderten und der kleinste gemeinsame Nenner, das Nichts.
In diese Zeit passen auch eigenartige Bestattungen, wie die eines Hoyerswerda Bikers, der von seiner Motorrad-Gang betrauert wurde. »Mir war schon eigenartig zumute«, sagt Bodo Tannenhauer, »dreißig Motorräder und ich mit dem Leichenwagen mittendrin. Aber wir sind nicht durch die ganze Stadt gefahren, wie sie das ursprünglich wollten. Nur zur Wohnung hin und dann gleich zum Friedhof.«
Für solche Extravaganzen ist Hoyerswerda kein besonders guter Platz. So wie sie gemeinsam allmorgendlich im Bus ins Gaskombinat oder in die Grube fuhren, so liegen sie auch in der Reihe eng und diszipliniert beieinander. Nur sehr selten ragen besondere Grabmale aus dem Waldboden heraus, dann aber meistens als Hinweis auf ein Gemeinschaftsgrab. Nur eins könnte die Hoyerswerdaer Heimwerker noch interessieren: das Grab aus dem Baumarkt. Dagegen aber stehen das fehlende Angebot und die engen Friedhofssatzungen.
Mit schlecht verholenem Unwohlsein beobachtet Bodo Tannenhauer die Tendenz, die Urnen außerhalb des Friedhofs zu verwahren. »In Holland können sie die Urne gleich nach der Einäscherung mitnehmen«, sagt er zurückhaltend, »aber niemand kann die Angehörigen daran hindern, die Urne schon auf dem Nachhauseweg irgendwo zu entsorgen.« Den immer stärker werdenden Wunsch, die Urne im Garten zu bestatten, kann er gut verstehen. »Aber was, wenn der Garten, in den die Urne gesetzt wurde, wegen der Arbeit aufgegeben wurde?«
Inzwischen hat sich wenigstens das Angebot verändert. Das Würzburger Unternehmen Grabwerk bietet seit einem halben Jahr im Internet Grabsteine zum Billigtarif an. Nach dem Beispiel von Ikea kann sich jeder zusammenstellen und mit der Post schicken lassen, was er für seinen Verblichenen braucht: Platten, Einfassungen, Grabsteine. Besonders ungewöhnlich ist das Schaufenster im Grabstein. Dort kann jede Grabbeigabe und jedes Bild gut sichtbar und wetterfest ausgestellt werden und bei Bedarf auch ausgewechselt.
Trotz der originellen Idee, die Wolfgang Hrapia bei der Bestattung der Eltern fand, als er mit der »Monotonie der Friedhöfe konfrontiert wurde«, ist der Absatz nicht so, wie ihn sich der Unternehmer wünscht. »In Deutschland ist das total schwierig, weil jedes Bundesland, jede Kommune eine andere Friedhofssatzung hat.« Von zehn Anfragen würden sieben von den Friedhofsverwaltungen abgelehnt. Allerdings hofft das Unternehmerteam Wolfgang Hrapia und Michael Haase auf die Liberalisierung der Friedhofsverordnung. Vor allem auf das Ende jenes seltsamen Verfahrens, bei dem die Verwaltung selbst vor Gewalt nicht zurückschreckt, wenn sie beweisen will, dass ein Grabstein umfallen könnte. Vielleicht ist es das, was manchen Heimwerker schon von der Anfrage zurück hält. Was hilft der beste Beton, wenn nicht nur ein Antrag eingereicht werden muss, sondern die Verwaltungen ihrerseits aufrüsten und irgendwann einen den Bau begleitenden Architekten verlangen?
Ein Gedanke sollte den Verwaltungen vielleicht doch nahe gelegt werden: Wenn die Schaufenster von Grabwerk manchen dazu verführen sollten, gleich Werbung fürs eigene Geschäft hinein zu stellen, dann wäre das eine gute Gelegenheit, die Gebührenordnung zu erweitern.
Die Erben des singenden Baggerfahrers wählten ein anderes Denkmal. Sie holten einen Findling aus dem Tagebau und verzichteten auf alle Verse, von denen Gundi so viele hinterlassen hat. »Erst am Nachmittag, so gegen fünf Uhr etwa«, sagte Tannenhauer, »waren die Letzten an Gundis Grab vorbeigezogen.« Gerhard Gundermann wird dieser Veranstaltung von oben interessiert zugesehen und schon ein Lied auf die Wiederkunft geschrieben haben. Der Sänger war bekennender Seelenwanderer. Einer, von denen man hofft, dass sie Recht behalten.

http://mon.de/dd/tannenhauer/homehtm; http://g...

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