»Beginne jeder bei sich selbst«
Die Brücke von Remagen und ein Verein, der sich gewissenhaft um Gewissen kümmert
Hans Peter Kürten ist ein Träumer! Schade. Schade? Wieso! Solche Menschen sind wichtig. Unverzichtbar! Und man muss ihnen danken und hoffen, dass es auch künftig solche Träumer geben wird. Die Realität verlangt nach ihnen.
Wer ist dieser Hans Peter Kürten? Ein kleiner alter Mann, er wohnt am Rhein in einem Städtchen namens Remagen. Hier lässt es sich leben, selbst jetzt, wo der Winter in Deutschland eingekehrt ist, scheint hier die Sonne etwas wärmer herab. Die hüglige Landschaft ist schön und manche behaupten, der Wein, der aus den Trauben der Umgebung gekeltert wird, sei so schlecht nicht. Doch sonst gibt es kaum einen Grund, von dem Häuserflecken Notiz zu nehmen. Es sei denn, man ist bei der Kommunalaufsicht. Pro Einwohner häufen sich nämlich gesellschaftliche Schulden in Höhe von 1176,47 Euro an. Sagt die Statistik. Und wer in diesen kalten Tagen durch die Straßen hastet, glaubt, dass die Statistik untertreibt. Die Züge, die hier im Viertelstundentakt halten, bringen nur wenige Gäste. Die Schifffahrt ruht. Selbst das Hotel in der Fußgängerzone, für das unlängst noch US-Reiseführer warben, weil man da morgens den Deutschen Schäferhund des Besitzers live am Tisch erleben konnte, hat seit Monaten bereits geschlossen.
Doch Remagen ist bekannt, hier wurde Geschichte geschrieben. Vor allem vor, auf und jenseits der Brücke. Die nicht mehr ist. Sie führte über den Rhein, nur noch die vier mächtigen Außenpfeiler stehen. Und im Raum ganz oben im rechten der westlichen Pfeiler sagt besagter Hans Peter Kürten: »Glauben Sie mir, die Menschen können lernen!«
Lernen, sich nicht länger gegenseitig die Schädel zu spalten, meint Kürten. Die Umgebung des düsteren grauen Raumes sagt etwas anderes. An den Wänden sind die Kriege nach dem Krieg, der 1945 endete, mit grauen Rechtecken aufgelistet. Sortiert nach Himmelsrichtungen. Im Norden ist die Wand so gut wie leer. »Weil da nur noch der Nordpol kommt«, sagt Kürten. Im Süden dagegen wird der Platz eng. Kürten, seit der ersten Minute unserer Begegnung ganz im Auftrag eines Museumsführers befangen, fühlt sich zur Erklärung gefordert: »Sehen Sie, die Brücke Remagen-Erpel, die nun nicht mehr ist, wurde gebaut, um den Erbfeind Frankreich zu schlagen. Per Eisenbahn sollte Nachschub für die Front rollen. Sie war eiserner Teil des Schlieffenplans und man nannte sie nach Ludendorff.«
Das war im Weltkrieg, dem man die Eins verabreichte, weil ein noch schlimmerer folgte, in dem die Brücke eine unvergleichlich wichtigere Rolle spielen sollte. »Na und?!«, schaut Kürten mit einem fast triumphierenden Lächeln empor: »Seit 60 Jahren haben wir Frieden! Warum sollen nicht auch andere Völker Freundschaft schließen können?!«
Ja warum nicht? Weil sie vielleicht zu wenige Bürgermeister wie Kürten haben? 1965 hat er das Amt in Remagen übernommen und schon bald eine Partnerschaft mit einer Stadt des »Erbfeindes« geschlossen. Zufall oder nicht, sie trug die Nummer 1000 in der Liste der besonderen deutsch-französischen Nachkriegsbeziehungen. Erst am Tag, als sein Bürgermeister-Kollege von Maisons-Laffitte zu Grabe getragen wurde, erfuhr Kürten, dass der ein wichtiger Mann der Résistance gewesen war. »Er hat mir nie erzählt, dass er so gegen die Nazis kämpfte. Dabei haben wir uns geduzt...« Kürten erzählt das so fragend, als verstehe er noch immer nicht, warum sein Freund ihn nicht eingeweiht hat. Vielleicht bleibt da ja trotz aller Partnerschaft ein Rest unausgesprochen? Ein Rest für kommende Generationen? Remagen ist ein Beispiel dafür, wie fraglich die Stafettenübergabe beim Lernen ist.
Heute vor 60 Jahren war - wie General Eisenhower, der Oberkommandierende der gegen das Nazi-Regime kämpfenden US-Truppen, sagte - die Brücke »ihr Gewicht in Gold wert«. Wer will, kann sich die Geschichte in einem US-Spielfilm anschauen. Der wurde zwar in Most, wo die Elbe tschechisch ist, gedreht, doch im Großen und Ganzen stimmt er. Abzüglich der Details, die Hollywood als »Action« hinzufügte. Wahr ist, dass - während der britische Feldmarschall Montgomery die Rheinüberquerung weiter nördlich vorbereitete, um Hitlers Truppen an deren Westfront »den Rest zu geben« - die Brücke US-amerikanischen Truppen zufiel. Weitgehend intakt.
Das Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht verzeichnet: »Der Feind gelangte bis zur Brücke von Remagen, die anscheinend mit Flüchtlingen verstopft war. Er überschritt sie und konnte am Ostufer einen Brückenkopf bilden. Ein Gegenangriff heute früh. Die 11. Pz.-Division wird von Bonn geholt, jedoch fehlt Betriebsstoff.« Goebbels hetzte, wie Eintragungen in seinem Tagebuch belegen, gegen die »Feiglinge«. Hitler tobte und ließ angeblich verantwortliche Wehrmachtsoffiziere standrechtlich umbringen. Bis auf einen, der gerichtlich rehabilitiert wurde, gelten die Männer juristisch noch immer als Verräter.
Dabei war kein Verrat im Spiele. Alles war zur Sprengung vorbereitet, doch irgendein Richtschütze in irgendeinem US-Panzer hat irgendeine Granate auf die Brücke gefeuert. Und deren Detonation kappte die Drähte, durch die der Strom zu den Sprengkapseln hätte fließen können. Da die Verteidiger zu schwach waren und zudem von Zivilisten, die sich im anschließenden Bahntunnel vor den pausenlosen Bombardements verborgen gehalten hatten, am »Fünf-vor-zwölf-Wahnsinn« eines Heldentodes »für Führer, Volk und Vaterland« gehindert worden waren, gelangten US-Soldaten ans östliche Rheinufer. Sie bildeten einen Brückenkopf, verstärkten ihn solange die Brücke hielt. Später rollte alles über Ponton-Brücken. Vermutlich hat dieser Zufall und die beherzte Aktion von Soldaten unter dem US-Leutnant Timmermann - dessen Familiengeschichte allein ein deutsch-(deutsch-)amerikanisches Drama gestalten könnte - den Krieg um ein paar Tage, vielleicht um Wochen verkürzt. Oder am Rheinübergang weiter nördlich etwas verhindert, das an der deutsch-sowjetischen Front unter dem Stichwort »Seelower Höhen« in die Geschichte eingegangen ist. Denn eiligst zog das deutsche Oberkommando Truppen vom Norden ab, um sie gegen den Brückenkopf von Remagen zu werfen. Dort wurden die Kämpfe umso blutiger: 7400 Mann tot oder verwundet, so lautete die 14-Tage-Bilanz der US-Militärs. Die deutsche Seite war längst nicht mehr in der Lage, über ihre »Abgänge« Buch zu führen. Friedhöfe in der Umgebung verzeichnen blutjunge »Soldaten« sowie in den Rock gezogene Familienväter auf ihren Grabplatten.
Ein paar Tage nach dem kühnen Handstreich brach die beschädigte Brücke dann tatsächlich zusammen. Zurück blieben ihre Trümmer. Und die brachten Hans Peter Kürten auf den Gedanken, wie seine Idee vom Friedensmuseum wahr werden könnte. Als man die Pfeiler im Rhein beseitigte, bat der Bürgermeister die Abbruchfirma, »das ganze Gestein einfach ans Ufer zu werfen«. Daraus hat er kleine Steinbrocken gelöst, sie in Kunstharz gegossen und diese Blöcke dann mit Zertifikat verkauft. Man kennt das Verfahren von den späteren »Mauerspechten« in Berlin. So kam Geld für das Museum zusammen. Ein Schreiner rahmte Dokumente über die Geschichte der Brücke und legte sie hinter das Fensterglas von Remagener Abbruchhäusern. Und dann eröffnete Kürten »sein« Friedensmuseum. Eine damals angebrachte Tafel am Turmsockel lässt lesen: »Für den Krieg gebaut, im Krieg zerstört, sollen die Türme immer mahnen. Hier starben Soldaten zweier großer Nationen. Hier starben Helden von hüben und drüben.«
Der Text stammt von 1978. Heute, so meint Kurt Kleemann, studierter Historiker, angestellt bei der Stadt und Mitglied des Brückenvereins, würde man das mit den Helden sicher so nicht mehr schreiben wollen. Doch er sieht auch diesen Text als »Ausweis seiner Zeit«. Irgendwann wird man die Tafel sicher in die Ausstellung im Innern der Türme integrieren. Denn die lässt nichts aus. Auch nicht die Leiden der Zivilbevölkerung, nicht die Grausamkeiten jener Monate, in denen die US-Sieger Zehntausende deutsche Gefangene in »Gefangenencamps« auf den Rheinwiesen vegetieren ließen. Voller Hunger, mit Seuchen und der Ungewissheit, ob sich irgendwann einmal Leben wieder lohnen wird.
Die Frage hat sich im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik für viele rasch und auf sehr einseitig-materielle Art geklärt. Doch die rund 50 Mitglieder des Friedensmuseums wollen - wie der Name sagt - mehr als nur Frieden mit sich. Sie sind in Kontakt mit rund 50 anderen Friedensmuseen in der Welt, die gleichfalls das Lernen aus menschlichem Unverstand und Leid zur obersten Maxime erklären. Das Durchschnittsalter des Vereins liegt ein gutes Stück über 50. Es gab vor Jahren den Versuch eines Lehrers, mit Schülern ein wenig näher an den Brückenverein heranzurücken. Doch das Interesse erlahmte.
Kleemann ist mit seinem Geburtsjahr 1956 einer der »Jungen«. Und so hat er sich dafür eingesetzt, dass das Museum einen modernen und durchaus auch didaktischen »Touch« erhält. Dafür hat man einen Kredit von 400000 Euro aufgenommen und zahlt nun ab, was man kann. Man hört: 1000 Euro pro Jahr - das deutet auf Zuversicht. »Sollten wir dereinst nicht mehr sein oder nicht mehr können, hat die Stadt sich verantwortlich erklärt.« Doch, sagt Kleemann, so weit ist es noch lange nicht. Die Vorbereitungen auf den heute zu begehenden Jahrestag haben gezeigt: »Der Krieg ist noch da in den Leuten...« Folglich sei da auch die Chance, v...
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