Wenn der Arzt eine Rakete braucht

Ein deutsch-russisches Team hat ein Konzept für medizinische Hilfe im Weltraum entwickelt

  • Jonas Siehoff
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.
»Bisher war das Auswahlverfahren für Astronauten außerordentlich streng«, sagt Matthias Schäfer, Anästhesist im Mainzer Uniklinikum. »Da brauchte man schon die Fitness eines Olympiasiegers, um in den Weltraum zu dürfen.« Entsprechend wenige medizinische Zwischenfälle hat es in den nunmehr gut 40 Jahren Raumfahrt gegeben. Doch das könnte sich recht bald ändern. Denn vor allem Russland zeigt sich stark daran interessiert, den erdnahen Weltraum mehr und mehr auch für gut zahlende, aber nicht unbedingt durchtrainierte Touristen zu öffnen. Auf Anfrage des einstigen Kosmonauten Juri Atkow, der heute Präsident der Russischen Gesellschaft für Telemedizin ist, begann ein Team um Schäfer und Wolf Mann, Direktor der Hals-Nasen-Ohren-Klinik der Uni Mainz, im Jahr 2000 mit dem Projekt »Temos - Telemedical Emergency Management on Board the International Space Station«. Ziel des inzwischen abgeschlossenen, vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) mit rund 375000 Euro finanzierten Vorhabens war es, ein Behandlungskonzept für medizinische Notfälle in der Internationalen Raumstation ISS zu entwickeln. Zwar gab es bereits einige Erste-Hilfe-Handbücher für das Weltall, »aber die waren alle ziemlich schlecht«, sagt Assistenzärztin Leila Helou, die an Temos beteiligt war. Die Gründe dafür liegen nahe: Die »Umweltbedingungen« im Kosmos unterscheiden sich vor allem durch das Fehlen der Schwerkraft so grundsätzlich von denen auf der Erde, dass sich bereits vorhandene Konzepte nicht ohne weiteres übertragen lassen. »Mit zunehmendem Aufenthalt in der Schwerelosigkeit nimmt die Blutmenge der Astronauten ab«, nennt Schäfer ein Beispiel. Verliert ein Astronaut dann etwa durch einen Unfall Blut, hat das wesentlich ernstere Folgen als ein vergleichbarer Blutverlust auf der Erde. Außerdem müssen andere Behandlungsmethoden gewählt werden: Auf der Erde hängt man eine Blutkonserve einfach auf und lässt die Flüssigkeit von oben in die Adern des Patienten rinnen. Im Weltraum funktioniert das nicht - auch hier macht sich die fehlende Schwerkraft bemerkbar. »In diesem Fall muss man mit einer Infusionspumpe arbeiten«, sagt Helou. Anschaulich ist auch das Beispiel der Herz-Druckmassage zur Wiederbelebung bei einem Kreislaufstillstand: Denn was passiert im All, wenn der Therapeut unbefestigt auf den Brustkorb des Patienten drückt? Er fliegt nach hinten weg. Für fünf typische Notfallsituationen - Blutverlust, Herzinfarkt, Verbrennung, Dekompression und Bewegungskrankheit - überlegten sich die Mainzer Ärzte in Zusammenarbeit mit Kollegen aus Russland, von der International Space University in Straßburg und vom Erlangener Institut für Telemedizin, was man im Kosmos anders machen muss. Dabei bedienten sie sich eines von ihnen entwickelten »Human Patient Simulators«, einer Kombination aus lebensgroßer Puppe und Computersystem, die Reaktionen des menschlichen Organismus simuliert. Speist man die von den Medizinern »Stan« getaufte Puppe mit Daten, die ihr zum Beispiel die Anweisung »Herzinfarkt« oder »Verbrennung« geben, reagiert sie mit physischen Merkmalen. »Sie stöhnt, ihre Pupillen weiten sich und sie hat sogar eine Ausscheidung«, erklärt Helou. Außerdem begab sich das Team um Mann und Schäfer ins Juri-Gagarin-Trainingszentrum für Kosmonauten in der Nähe von Moskau, um dort mit den russischen Kollegen in einer Nachbildung der ISS verschiedene Notfallszenarien durchzuspielen. Unter anderem wurde in einem Modell der Sojus-Rettungskapsel getestet, wie ein Raumfahrer gleichzeitig die Kapsel steuern und ein Beatmungsgerät für einen bewusstlosen Passagier bedienen kann. Die Mediziner beschäftigten sich auch mit der Frage, welche technischen Standards für die Datenübertragung benötigt werden, um einen Notfall im Kosmos von der Erde aus zu betreuen. Denn in aller Regel handelt es sich bei Raumfahrern um medizinische Laien, die bei der Behandlung im All auf Anweisungen von Ärzten auf der Erde angewiesen sind. Zuverlässige Beratung ist jedoch nicht jederzeit gewährleistet, da die Kommunikation zwischen Erde und Raumstation immer wieder in Funklöchern versackt. Ein Ziel des Folgeprojekts »Temos 2«, das Mann und Schäfer gerade beantragen, soll es deshalb sein, ein so genanntes Expertensystem zu entwickeln. Dabei handelt es sich um ein Computerprogramm mit einer Datenbank, in der die so genannten Vitaldaten der Astronauten wie Blutdruck, Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung des Bluts gespeichert sind. Die Raumfahrer könnten das System künftig auf einem Laptop mit in den Kosmos nehmen, um es dort anstelle eines Arztes zu befragen. Stellt ein Astronaut zum Beispiel nach einem Unfall fest, dass sein Blutdruck gesunken ist, kann er die neuen Werte eingeben. Das System empfiehlt dann nach einem Vergleich mit den normalen Werten eine entsprechende, von den Ärzten vorher festgelegte Behandlung. Auch die Datenaufnahme, etwa das Blutdruckmessen, wollen Mann und Schäfer mit Hilfe eines miniaturisierten »Lifesensors« erleichtern. Das noch zu entwickelnde mikroelektronische Gerät soll sämtliche benötigten Vitaldaten auf einmal erfassen, indem es zum Beispiel auf die Haut geklebt wird. Blutdruck messen, EKG aufzeichnen - das umständliche Hantieren mit mehreren größeren Geräten entfiele dann. Für den »Lifesensor« kann sich Schäfer übrigens auch Anwendungsmöglichkeiten auf der Erde vorstellen: »zum Beispiel bei der Beh...

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