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  • Politik
  • ? Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie

Die Kunst des Unterscheidens

  • Jens Braun
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit drei Jahrzehnten arbeitet Niklas Luhmann, der am 8. Dezember seinen 70. Geburtstag begeht, an seiner Gesellschaftstheorie. Das jetzt vorgelegte Werk »Die Gesellschaft der Gesellschaft«, weit über tausend Seiten stark, betrachtet er als den dritten, zusammenfassenden Teil eines Zyklus'. Als Einleitung dieses wahrhaft epochalen Unternehmens erschien 1984 »Soziale Systeme«. Seitdem folgten - gewissermaßen als zweite Abteilung - mehrere Bände zu einzelnen Funktionssystemen der modernen Gesellschaft, so zur Wirtschaft, zum Recht, zu Wissenschaft und Kunst.

Dem ungeübten Leser wird es anfänglich schwer fallen, Luhmann zu lesen und gar zu verstehen. Man meint, Texte in einer unvertrauten Mundart vor sich zu haben. Tatsächlich ist es für das Verständnis unerläßlich, sich die Luhmannsche Theoriesprache zu erarbeiten wie eine Fremdsprache. Luhmann ist der Meister feinsinniger und hochpräziser Unterscheidungen. Er kann da nur mit Hegel verglichen werden. Die Vielfalt und Komplexität an Unterscheidungen, Diffe-

renzen, Paradoxien usw stellen sich zunächst als schier undurchdringliches Dornengestrüpp dar, doch nach einiger Beschäftigung damit entdeckt der Leser hinter den spröden Formulierungen einen eigentümlichen Humor.

Und die Inhalte! Sie können hier natürlich nicht annähernd wiedergegeben werden. Wie auch nicht die erkenntnistheoretischen und philosophischen Konsequenzen der Luhmannschen Denkweise. Den Hintergrund für seine Gesellschaftstheorie bildet eine Synthese aus dem universellen Orientierungsangebot der Systemtheorie und dem der modernen Biologie entlehnten Autopoiesis-Konzept. Die Systemtheorie geht aus von der Unterscheidung von System und Umwelt. Systeme grenzen sich gegenüber der Umwelt ab, indem sie eine Komplexitätsreduktion durchführen und eine eigene Operationsweise ausbilden. Autopoiesis - »Selbsterschaffung« - bedeutet, daß Systeme sich reproduzieren, indem die Elementarvorgänge des Systems im Netz-* werk dieser Vorgänge selbst erzeugt werden. Der Elementarvorgang, der schließlich die Gesellschaft bildet, ist die Kommunikation.

Die moderne bürgerliche Gesellschaft sieht Luhmann wesentlich geprägt durch

funktionale Differenzierung, d. h., es gibt eine Art Strickwerk aus besonderen Funktionssystemen, die aus jeweils speziell binär codierten kommunikativen Elementarereignissen bestehen. Das Rechtssystem etwa ist orientiert am Code Recht/Unrecht, der durch Programme, also in erster Linie den Gesetzesbestand, näher erläutert wird. Das Wirtschaftssystem folgt dem Code Haben/Nichthaben, die kommunikativen Operationen sind die Zahlungen, die durch das Medium Geld vermittelt werden. Indem Zahlung an Zahlung anschließt, funktioniert das System. Wer nicht zahlen kann oder nichts zu verkaufen weiß, hört auf, am Wirtschaftssystem teilzunehmen.

Solche Funktionssysteme sind nicht die Orte für den gesunden Menschenverstand. Sie verstehen nur die Sprache des eigenen Codes. Beispiel: Ein Investor würde zu den üblichen Kosten eine technologisch hocheffiziente Produktionsstätte errichten lassen. Verfügt er jedoch über kein angemessenes Vertriebsnetz, könnte er die Produkte nicht im notwendigen Umfang auf dem Markt absetzen, und das neue Werk wäre unter ökonomischem Gesichtspunkt unrentabel.

Den Eigensinn der Funktionssystem im Blick, ist Luhmann skeptisch hinsichtlich

der Möglichkeiten, die moderne Gesellschaft durch irgendeine Form von bewußter Steuerung oder Planung aus den existentiellen Gefährdungen herauszuführen. Manchen Linken gilt er daher als »konservativ«. Das ist sicherlich ein Vorurteil. Luhmann ist auf ganz eigene Weise revolutionär und hat die Entwicklung der Gesellschaftstheorie vom Wunschdenken zur Wissenschaft einen Schritt voran gebracht. Um kurz in die Theoriegeschichte zu-

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rückzublicken: Marx, der in gewissem Sinne Höhepunkt und Vermächtnis der klassischen Aufklärung darstellt, verfolgte vor allem einen vom Klassenbegriff geprägten ökonomietheoretischen Ansatz. Auf dem langen Theoriepfad, der von Ferdinand Tönnies bis zu Jürgen Habermas führte, wurde dem grundsätzlichen Konflikt zwischen konkreten menschlichen Lebensbedürfnissen und der Eigenrationalität funktionaler Differenzierung nachgespürt. Für Luhmann dagegen sind etwa Klassentheorie oder Lebensweltkonzept ganz unzulängliche Zugriffe zur Beschreibung der funktional differenzierten modernen Gesellschaft, Zugriffe, die viel zu sehr geleitet sind von alten Erlösungsutopien. Er läßt nur noch die Regeln codierter selbstreferentieller Kommunikation gelten.

Man darf fragen, ob diese Rigorosität nicht ihrerseits Schwierigkeiten mit sich bringt, reale soziale Problemlagen zutreffend zu erfassen. Luhmanns Bemühungen, anhand des Codes Inklusion/Exklusion dieser Schwierigkeiten Herr zu werden, könnten eine Grenze seines Theoriewerks anzeigen. Aber die Antwort auf diese Fragestellungen hat keine Eile. Vorerst heißt es, von Luhmann zu lernen. Dies gilt insbesondere für uns Sozialisten, sind wir doch derzeit nicht in der Lage, irgendeinen ernstzunehmenden Theorieansatz vorzulegen.

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