Mit »Weißen Bussen« in die Freiheit

Bernadotte-Aktion rettete im März/April 1945 tausende skandinavische und andere KZ-Gefangene

  • Jochen Reinert
  • Lesedauer: ca. 7.0 Min.

In weiß gestrichenen Bussen mit einem Roten Kreuz auf dem Dach wurden vor 60 Jahren - in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs - über 20000 KZ-Häftlinge vor Todesmärschen und Vernichtung gerettet.

Nur unter größten Anstrengungen kann sich Trygve Bratteli in den Apriltagen 1945 auf den Beinen halten. Von den 29 im November 1944 in der KZ-Außenstelle Vaihingen (Württemberg) eingelieferten norwegischen Nazigegnern, die im Steinbruch des KZ Natzweiler Sklavenarbeit verrichten mussten, sind nur noch 16 am Leben. Bratteli selbst lag bereits auf einem Leichenhaufen, bis ein Mitgefangener sah, dass sich eine seiner Hände bewegte. In diesen Stunden macht in Vaihingen das Gerücht die Runde, die Skandinavier würden von den »Weißen Bussen« aus ihrer Not befreit. Sie konnten es kaum glauben. »Doch dann«, notierte der spätere norwegische Ministerpräsident in seiner Autobiografie »Gefangener in Nacht und Nebel«, »kam in unsere Baracke ein großer schwedischer Chauffeur...«
»Das war ich«, erinnert sich der heute 82-jährige Axel Molin, der als pensionierter Polizeiinspektor im schwedischen Norrköping lebt. An jenem Apriltag hatte er mit dem norwegischen Arzt Dr. Heger nach langer Suche das von der SS schon geräumte Lager erreicht. In einer Baracke fanden sie die Norweger. »Den meisten von ihnen«, berichtet der Schwede, »ging es sehr, sehr schlecht, auch Bratteli.« Dann eine gespenstische Fahrt quer durch das brennende Dritte Reich bis ins KZ Neuengamme, den Sammelpunkt der skandinavischen Häftlinge.
Als die schwedische Militärführung Ende Februar 1945 Freiwillige für die Hilfsaktion suchte, hatte sich der Waldarbeitersohn Molin sogleich gemeldet. Am 9. März war es so weit. Ein Konvoi von 36 Bussen setzte mit der Fähre von Malmö nach Kopenhagen über. Die in die geheime Aktion eingeweihten Alliierten gaben in letzter Minute einen wichtigen Hinweis: Die Busse sollten nicht nur weiß gestrichen sein, sondern ein Rotes Kreuz im schwarzen Kreis auf dem Dach haben. In Malmö wurden alle verfügbaren Maler mobilisiert, letzte Striche noch auf der Fähre angebracht.
Wenig bekannt: Ausgangspunkt der Aktion war in den Heilstätten Hohenlychen im Nordbrandenburgischen ein bizarres Gespräch zwischen Graf Folke Bernadotte, damals Vizevorsitzender des schwedischen Roten Kreuzes, und SS- und Gestapochef Heinrich Himmler. Bernadotte, der während des Zweiten Weltkrieges bereits in anderen humanitären Missionen unterwegs war, hatte sich Ende 1944 gefragt, ob es nicht möglich wäre, etwas für die Todgeweihten in den deutschen Konzentrationslagern zu unternehmen. Dabei dachte er vor allem an die skandinavischen Gefangenen. Bernadottes Plan: Nur ein Treffen mit dem Oberschergen Himmler, der - so der Schwede in seinem Buch »Slutet« (Das Ende) - mit seinen Terrororganisationen »das wankende Dritte Reich am Rande des Abgrunds mit eiserner Faust zusammenhielt«, würde ein Ergebnis bringen.

Geheime Treffen in Hohenlychen

Die ehemaligen Heilstätten Hohenlychen bieten heute einen gespenstischen Anblick. Die von einem hohen Drahtzaun umgebenen maroden Gebäude dämmern seit dem Abzug der Sowjetarmee 1993, die hier ein großes Lazarett unterhielt, vor sich hin. Der 81-jährige Heimatforscher Hans Waltrich weiß viele Geschichten von der Gründung der Heilanstalten durch Prof. Pannwitz bis zur Übernahme durch die Nazis, der Säuberung von jüdischen Ärzten, dem Ausbau zu einem Vorzeige-Sportsanatorium und den bestialischen Versuchen des Chefarztes Dr. Gebhardt an KZ-Gefangenen zu erzählen. Wo am 19. Februar 1945 das erste Treffen Bernadotte-Himmler stattfand, weiß Waltrich nicht mit letzter Sicherheit zu sagen. Doch er ist davon überzeugt, dass sich die beiden in der Privatstation I von Gebhardt begegneten. Dort hätten seinerzeit auch blaublütige Patienten wie der König von Griechenland oder hohe Naziführer wie Speer Aufnahme gefunden. Dafür spricht auch, dass Bernadotte in seinem Buch berichtet, er sei von Gebhardt in dessen eigenem Krankenzimmer (er hatte gerade eine Lungenentzündung) empfangen worden; unmittelbar danach traf der Schwede den »höchsten Gestapochef... in der grünen Uniform der Waffen-SS«.
Himmler lehnte den Vorschlag Bernadottes, die skandinavischen KZ-Gefangenen in Neuengamme zu konzentrieren und von schwedischem Personal pflegen zu lassen, zunächst rundweg ab. Aber schließlich erklärte sich der Naziführer, dessen Schweden-Faible der Rot-Kreuz-Mann geschickt ausnutzte, nach langen Debatten einverstanden. Der Hintergrund: Himmler, Schellenberg und andere Naziführer hofften, bei einem weiteren Versuch zur Sprengung der Antihitlerkoalition die Regierung Schwedens einspannen zu können. Schweden wiederum trachtete danach, in den letzten Kriegstagen Verwüstungen in den Nachbarländern - wie bereits im Norden Norwegens geschehen - und ein Übergreifen von Kämpfen auf sein Territorium zu verhindern. Und möglichst viele skandinavische KZ-Gefangene vor dem Tod zu retten.
Axel Molin erinnert sich: Am 13. März, nachts um 1 Uhr, kamen die »Weißen Busse« auf dem Bismarckschen Gut Friedrichsruh an, dem Hauptquartier der Bernadotte-Aktion. Die erste Fahrt ging ins süddeutsche Dachau. Irgendwie wusste Molin schon, was ihn erwartete. Doch die erste Begegnung mit KZ-Gefangenen war ein Schock. »Sie boten einen furchtbaren Anblick. Viele hatten riesige Wunden und Entzündungen. Die Männer hatten lange Zeit kein ordentliches Essen bekommen und ihre Mägen revoltierten, als sie Speisen von uns erhielten.« Die Retter mussten für alles selbst sorgen, die Deutschen halfen ihnen nicht - kein Essen, kein Benzin, keine Medikamente. In der Regel fuhr in jedem Bus ein Gestapomann mit, der die Gefangenen, aber auch die schwedischen Helfer überwachte.

Heldengeschichte mit dunklen Flecken?

Als Bernadotte am 2. April Himmler wieder in Hohenlychen traf, hatte der Schwede drei Tage zuvor als erster ausländischer Repräsentant ein deutsches Konzentrationslager - Neuengamme - besucht. Die »verabscheuungswürdigste aller Schöpfungen des Dritten Reiches«, notierte der Rot-Kreuz-Mann. Bernadotte verlangt den sofortigen Transport aller Skandinavier nach Schweden. Die Naziführer wiederum wollen ihn zu General Eisenhower schicken, um mit diesem eine Kapitulation an der Westfront zu verabreden. Bernadotte verlangt als Vorleistung die Absetzung Hitlers, die Auflösung der NSDAP und die Ausreise aller skandinavischen Häftlinge. Himmler weigert sich. Erst während der letzten Zusammenkunft der beiden in Hohenlychen am 21. April, als die Schlacht um Berlin bereits tobt, genehmigt Himmler den Transport der Skandinavier nach Schweden. Außerdem willigt er in den Vorschlag Bernadottes ein, auch nichtskandinavische Insassen des Frauen-KZ Ravensbrück nach Schweden zu bringen. Als Gegenleistung soll Bernadotte ein Kapitulationsangebot an die Westmächte transportieren. Schwedens Regierung informiert London, Washington und Moskau. Die Antwort kommt prompt: Nein. Inzwischen bringen Molin und die Seinen tausende Ravensbrück-Frauen, darunter auch viele polnische Jüdinnen, in Sicherheit.
Die »Weißen Busse« sind in Schweden seit langem eine Art nationaler Mythos. Die Busfahrer gelten als Helden - passend zum Selbstbild des Landes als humanitäre Instanz im Zweiten Weltkrieg. Erst spät setzte die Aufarbeitung der widersprüchlichen schwedischen Beziehungen zum Nazireich ein, der umfangreichen Eisenerzlieferungen für die deutsche Rüstungsindustrie oder der Finanzgeschäfte, bei denen Banken von Juden geraubtes Nazigold akzeptierten. Da war der Aufschrei verständlich, als man auch »dunkle Flecken« auf den »Weißen Bussen« ausmachte. Der Stockholmer Journalist Bosse Lindquist behauptete, die schwedischen Helfer hätten, Naziwünschen entsprechend, nichtjüdische den jüdischen Gefangenen vorgezogen und bei den Ravensbrück-Transporten westeuropäische Frauen gegenüber Osteuropäerinnen bevorzugt.
»Gut dass Sie darauf zu sprechen kommen«, meint Molin beinahe erleichtert. »Das ist kompletter Blödsinn«, sagt der Mann, der häufig in Schulen und Vereinen über seine Erlebnisse im Frühjahr 1945 berichtet. »Ich habe in meinem Archiv an die 100 Aktenordner mit allen Details der Aktion - dort finden sich keinerlei Anhaltspunkte dafür. Nach Theresienstadt fuhren wir extra, um 423 dänische Juden herauszuholen. Und Ravensbrück - das ist erst recht eine Lüge: Wir nahmen so viel Frauen mit wie wir irgend konnten, ganz gleich welcher Nationalität.«
Etwas weiter holt Molin bei dem jüngst von der Historikerin Ingrid Lomfors erhobenen Vorwurf aus, die »Weißen Busse« hätten durch den Transport von etwa 2000 französischen, russischen und polnischen Neuengamme-Häftlingen in das Lager Braunschweig die Geschäfte der Nazis besorgt und den Tod vieler dieser Gefangenen in Kauf genommen. Das sei eine sehr schwierige Situation gewesen, so Molin. Die Nazis hätten nicht, wie versprochen, ausreichend Unterkünfte für die vielen Skandinavier bereitgestellt, die in Neuengamme ankamen. Da die gesamte Hilfsaktion auf dem Spiel stand, mussten die schwedischen Helfer - so verteidigt er jenen schicksalsschweren Stockholmer Beschluss - diese Transporte selbst durchführen. Wobei, fügt er schnell hinzu, sie ihr möglichstes zum Schutz und zur Versorgung der Gefangenen getan hätten. Sein Mitstreiter Åke Svensson habe bereits 1945 in dem Buch »De Vita Busserna« über dieses furchtbare Dilemma berichtet. Zu sehen, wie die SS-Leute in Braunschweig mit den Gefangenen umsprangen, schreibt Svensson, »war das schlimmste Erlebnis während der ganzen Expedition«.

»Das war mein zweiter Geburtstag«

Bei allen behaupteten und tatsächlichen »dunklen Flecken« bleibt: Die Bestrebungen der Naziführer, die Bernadotte-Aktion zur Zerstörung der Antihitlerkoalition zu benutzen, hatten keinerlei Erfolg. Norwegen und Dänemark wurden in den letzten Kriegstagen nicht verwüstet und schließlich konnten über 20000 KZ-Häftlinge, darunter etwa 5000 Juden, vor Todesmärschen und Vernichtung in letzter Minute gerettet werden - was auch die Kritiker durchaus anerkennen. Einer der »Weißen Busse« steht heute in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem, wo all jene geehrt werden, die unter Lebensgefahr Juden vor dem Naziterror retteten.
Obwohl Axel Molin weit in der Welt herumgekommen ist - die Fahrten mit den »Weißen Bussen« waren die wichtigste Reisen seines Lebens. Der spätere norwegische Premier Bratteli schrieb über jenen Tag, an dem Molin in seine Baracke trat: »Merk dir diesen Tag, den 5.April, das war mein zweiter Geburtstag.« Und als er Nazideutschland hinter sich ließ, notierte er: »Adieu Hölle, adieu Drittes Reic...

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