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Münteferings Reißleine
Von Christa Luft
In der deutschen Sozialdemokratie ist neuerdings Kapitalismuskritik angesagt. Unlängst noch galt »Kapitalismus« als Begriff aus der »Mottenkiste des Klassenkampfes«. Plötzlich wirft Parteichef Franz Müntefering Teilen der Wirtschaft demokratiegefährdende »internationale Profitmaximierungsstrategien« vor. Die »totale Ökonomisierung eines kurzatmigen Profit-Handelns« reduziere die Handlungsfähigkeit des Staates.
Der Mann hat Recht. Aber vom Himmel gefallen sind diese Erscheinungen nicht. Massenarbeitslosigkeit hat sich über Jahrzehnte verfestigt, während Gewinne sprudelten. Der Reichtum Weniger nahm laufend zu, die Armut Vieler ebenfalls. Neu ist auch nicht, dass Global Player 25 Prozent als Mindestrendite anpeilen, ohne sich um soziale Verantwortung zu scheren. Solche Vorgänge sind dem kapitalistischen System immanent. Sie eskalieren, seit ihm nach kollabiertem Realsozialismus das äußere Korrektiv fehlt und die Gewerkschaften als innere Gegenkraft schwächeln. Bis vor kurzem noch sonnte sich die SPD im Applaus von Union und FDP für Schröders und Clements »Modernisierungspolitik«, die auf gedeihliche Bedingungen für die Kapitalverwertung statt auf soziale Gerechtigkeit zielte. Jetzt wirft ihr die Opposition vor, Anleihen bei Marx zu nehmen und wirtschaftsfeindlich zu sein. Empörung schallt ebenfalls aus der neoliberalen Ökonomen-Gilde. Hans-Werner Sinn vom Münchner Ifo-Institut meint, Münteferings »moralische Entrüstung über ökonomische Gesetze könnte sich genauso gut gegen das Gesetz der Schwerkraft richten«. Für Leute seines Schlages lässt sich der Markt nicht zügeln, hat der Staat nur eine Nachtwächterfunktion.
Was ist geschehen, dass der SPD-Chef die Reißleine zieht? Ist ihm Grundgesetzartikel 14/2: »Eigentum verpflichtet« gerade wieder eingefallen? Ist es Panik eines verzweifelten Wahlkämpfers? Oder hat die Einsicht in die Fruchtlosigkeit einer Politik obsiegt, die die Begünstigung weltweit agierender Unternehmen zur vorrangigen Staatsaufgabe macht? Wenn letzteres zuträfe, darf die Öffentlichkeit rasch handfeste Taten erwarten. So müsste sich der Bundestag wie die Parlamente Frankreichs und Belgiens für eine Tobin-Steuer auf Gewinne aus internationalen Devisengeschäften aussprechen. Spekulation kann damit eingedämmt werden. Überfällig ist die bislang von der SPD-Führung blockierte gesetzliche Mindestlohnregelung, um Lohndumping zu verhindern. 18 von 25 EU-Ländern haben längst eine solche Praxis. Öffentliche Fördermittel gehören zurückgefordert, wenn private Unternehmen aus Profitgründen die Produktion ins Ausland verlagern. Entlassungen trotz hoher Gewinne müssen steuerlich geahndet werden. Was spricht nach der Kritik Münteferings noch dafür, die Körperschaftsteuer um weitere sechs Prozent zu senken? Wann endlich wird die Initiative ergriffen, Managergehälter zugleich an die Beschäftigungsentwicklung des Unternehmens statt ausschließlich an Aktienkurse und Gewinnmargen zu koppeln?
Keine noch so berechtigte Kritik an den Auswüchsen des Kapitalismus kann davon ablenken, dass die jüngsten Wunden dem Sozialstaat nicht von gierigen Managern und anonymen Finanzinvestoren geschlagen wurden, sondern von Schröders Agenda 2010 und den Hartz-Reformen. Wenn die Warnung des SPD-Chefs vor den Auswüchsen des Kapitalismus glaubwürdig sein soll, dann muss er die Reißleine auch gegenüber solcher Art »Modernisierung« des Sozialstaates ziehen, die die soziale Verunsiche...
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