• Mundo Obrero

Rote Fahne unter dem Himmel von Berlin

Der spanische Kommunist Francisco Ripoll half, das Symbol der Befreiung auf dem Reichstag zu hissen

  • Mario Amorós
  • Lesedauer: ca. 5.5 Min.

Es ist eine der ausdruckstärksten Fotografien des 20. Jahrhunderts: Aufgenommen vor sechzig Jahren, als sowjetische Soldaten die rote Fahne auf dem Reichstag hissten, steht dieses Bild für die Niederlage des Nationalsozialismus, den Kampf und die Opfer der sowjetischen Völker und kommunistischen Kämpfer aus ganz Europa gegen die faschistische Barbarei. Einer der drei Soldaten auf diesem Bild ist das »Kriegskind« Francisco Ripoll, der sich als Freiwilliger für den Kampf gegen den Faschismus gemeldet hatte. Ripoll war bis zu seinem Tod vor vier Jahren aktives Mitglied der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE). Für Mundo Obrero ist diese bislang unveröffentlichte Reportage eine Hommage an die Genossen, die im Zweiten Weltkrieg ihr Leben gaben, und die bei den offiziellen Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes in Europa ein weiteres Mal ungenannt bleiben werden.

Francisco Ripoll wurde an Bord eines Schiffes aus Cartagena geboren. Sein Vater war bei der Marine. Francisco verbrachte seine Kindheit zwischen Barcelona und diesem Hafen, den sein Vater während des Bürgerkrieges immer wieder anlief. »Wir waren fünf Brüder. Vier wurden in die UdSSR geschickt, den fünften prügelten die Falangisten zu Tode«, erzählte er mir vor sechseinhalb Jahren in Benidorm (Alicante), wo er als Mitglied der Ortsgruppe der Esquerra Unida (Vereinigte Linke) lebte.
Zusammen mit seinen Brüdern reiste Francisco auf dem letzten Schiff, das spanische Kinder aus dem Land brachte, in die Sowjetunion. Noch Jahrzehnte später berichtet er bewegt, wie herzlich die 120 Jungen und Mädchen zwischen 4 und 14 Jahren in Leningrad empfangen wurden: »Tausende erwarteten uns auf der Mole. Es gab Musik, die Pioniere waren da... Einen Monat lang lebten wir in einem Hotel, dann wurden wir auf die verschiedenen spanischen Kinderheime verteilt.«
1940 kam er nach Leningrad: »Dort lebten wir wie Brüder. Die Tatsache, dass wir Waisen waren, niemanden hatten, nur die Zuwendung der Erzieherinnen und Lehrer, prägte uns.« Im gleichen Jahr schloss sich Ripoll der Kommunistischen Jugend Komsomol an, 1943 wurde er KPdSU-Mitglied.
Im Juni 1941, zehn Tage nachdem Hitler die Operation Barbarossa und die Invasion der Sowjetunion begonnen hatte, meldete sich Francisco Ripoll als Freiwilliger zur sowjetischen Armee. »Wir waren davon überzeugt, dass wir den Kampf unserer Väter gegen den Faschismus fortsetzen müssen. Viele von uns hatten Eltern und andere Familienangehörige verloren: durch Mord, Gefängnis oder Exil.«
900 Tage lang leistete Francisco Ripoll Widerstand bei der Belagerung von Leningrad. »Ich erinnere mich gut an den Krieg und viel Schlimmes, das wir erlebt haben. Der Winter 1941/42 war extrem hart. Wir hatten bis zu 50 Grad unter Null.« 1944 durchbrachen die sowjetischen Truppen den Kessel. Francisco Ripolls Division zog bis zum Baltikum vor und erreichte schließlich Polen.
Dort wurden sie Zeugen des Horrors, den der Holocaust hinterlassen hatte: »Wir waren die ersten, die Auschwitz betraten. Wir blieben nur einige Stunden, denn wir mussten weiter. Uns folgten andere, die sich um die Menschen kümmerten. Wir trafen keinen einzigen Nazi. Es gab dort Hunderte von Kindern, eine Gruppe Erwachsener... Wir sahen halbverbrannte Leichen in den Öfen. Es war furchtbar: Massen von Menschenhaar, Schuhe, Brillen, Kleidung unterschiedlichster Art... Am meisten beeindruckten mich die Haare - Menschenhaar in allen Farben. In den Baracken der Offiziere fanden wir aus Menschenhaut hergestellte Lampenschirme, Geldbörsen und Brieftaschen.«

Ein Bild und eine Geschichte

Francisco Ripoll war zwanzig Jahre alt und Oberleutnant der 15.Freiwilligendivision, als er am 27.April vor den Toren Berlins stand. In den Reihen der sowjetischen Soldaten herrschte »Begeisterung«, denn »wir wollten die Stadt einnehmen«. Der Befehl zum Angriff auf Berlin erfolgte am 29.April.
»Die Stadt lag nach den englischen Bombardements praktisch in Trümmern. Wir kämpften um jedes Haus. Hitler zog die letzten noch verbleibenden Männer ein und rekrutierte selbst die Kinder der Hitlerjugend. In der Nacht des 29.April erhielten wir den Befehl, den Reichstag anzugreifen. Es war ein harter Kampf gegen Gestapo, SS, und die Elite-Offiziere der Wehrmacht, die noch in Berlin waren. Wir siegten binnen Stunden.«
»Am 30. April [dem Tag, an dem Hitler im Führerbunker Selbstmord beging] hissten wir die rote Fahne auf dem Reichstag. Sowjetische Fotografen standen vor dem Gebäude. Vier Männer stiegen aufs Dach, doch sie wurden von Scharfschützen, die in den umliegenden Gebäuden versteckt waren, erschossen. Die Flagge fiel herunter, und wir hoben sie auf. Darüber ist nie gesprochen worden, aber wir wissen es. Ein Befehlshaber suchte Freiwillige - und da stand ich. Wir mussten unseren Weg durch Handgranaten und Maschinengewehrfeuer bahnen, bis wir durch das Labyrinth des Reichstags das Dach erreichten.«
»Wir waren eine halbe Stunde auf dem Dach. Immer noch schossen die Scharfschützen. Als sie das Feuer einstellten, schwenkten wir einige Minuten lang die Fahne. Auf Befehl befestigten wir sie dann. Schließlich lösten uns andere Soldaten bei der Wache ab, und wir stiegen wieder herab. Jeder war froh, herunterzukommen, denn die Schüsse der Scharfschützen bedeuteten Lebensgefahr. ... Ich erinnere mich auch an Jewgeni Chaldej, den Fotografen, aber ich weiß von ihm nur noch, dass er unter schwierigen Umständen und unter Beschuss seine Arbeit machte. Er hat uns nichts erzählt.«
Chaldej machte mehrere Aufnahmen. Wir sehen Francisco Ripoll und seine zwei Kameraden, wie sie auf die rote Fahne blicken, die über dem befreiten Berlin weht. Es ist ein mythisches Foto, das für die Niederlage des Nationalsozialismus steht. Die Tatsache, dass er nie nach Berühmtheit strebte, und dass er im Krieg einen russischen Namen annahm (Wladimir Dubrowski), erklärt vielleicht, dass Chaldej niemals bekannt wurde.
Für Francisco Ripoll war der Kampf auf sowjetischer Seite im Zweiten Weltkrieg »der Stolz meines Lebens«. Er erhielt dafür das Abzeichen der Belagerung von Leningrad, die Auszeichnung der Freiwilligen Volksarmee und den Orden für den Großen Vaterländischen Krieg, die größte Ehre in der UdSSR in Erinnerung an einen Krieg, der dieses Land mehr als 25 Millionen Menschenleben kostete.
Nach dem Krieg machte Ripoll eine Ausbildung als Nautiker, meldete sich dann bei der Wolgaflotte und studierte an der Marineschule in Astrakan. 1957 entschloss er sich, nach Spanien zurückzukehren. Dort trat er in die PCE ein. »Bei der Ankunft nahmen sie mir meinen Pass, ich erhielt einen Ausweis der Brigada Político Social und durfte die Stadt (Barcelona) nicht verlassen. Es war eine Schande!«
Seine letzten Lebensjahre widmete Ripoll dem Gedenken an seine jungen Mitkämpfer. »Ich möchte keinen Ruhm. Es geht mir allein um mein Projekt«, sagte er mir. Er wollte in Sankt Petersburg ein Denkmal für die 72 Jungen errichten, mit denen er im spanischen Kinderheim zusammengelebt hatte, und die auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs im Kampf der Sowjetarmee gegen den Faschismus ihr Leben gaben. Fast alle waren aktive Mitglieder der PCE.
Einige gerieten in deutsche Gefangenschaft (»verwundet«, betont er), »und wurden nach Frankreich geschickt oder in Spanien hingerichtet. ... Zwei von ihnen waren sogar Mitglieder der División Azul (Blaue Division): sie waren zuerst bei uns und später bekämpften sie die Nazis.« 120 bis 150 Mädchen und Jungen hatten im Leningrader Kinderheim gelebt. Einige starben an Entkräftung oder in Folge der Bombardierungen.
Francisco Ripoll erhielt die Genehmigung für die Errichtung des Denkmals im ehemaligen spanischen Kinderheim, das heute eine Schule ist. Es enthält die Embleme der II. Spanischen Republik (dreizackiger Stern) und der Sowjetunion (roter Stern), mit einem Olivenzweig als Friedenssymbol, und 72 Sterne. Doch Ripoll starb, bevor sein Projekt Realität wurde. Er zeigte mir noch die Liste mit den Namen seiner Kameraden, die an der Front gefallen waren, und fragte mich, wer sich denn sonst an sie erinnern würde: »Niemand«, beantwortete er selbst die Frage, »und das empört mich am meisten.«


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