Er war als Dichter ein »Gevierteilter«. Später zerbarst er in weit mehr Stücke. Ivo Andric.
Die Vierteilung bezog sich auf sein farbenvolles Erzählen übers muslimisch-orthodox-katholisch-jüdische Nebeneinander in Bosnien-Herzegowina. Die Feier der Vielfalt, des nationalen Kranzes. Wie sich aus geschichtlicher Tiefe eine Welt schält, die Begegnung ist. Und Begegnung bleibt, bis niemand mehr fragt, wieso eigentlich. Das wäre der Traum: dass es keine Serben mehr gibt, keine Bosnier mehr, nur noch Jugoslawen.
Dieses Denken und Schreiben, dieses Bewusstsein, das Sein wurde - es war der Grund, der Andric hoch erhob im Lande. Aber es war plötzlich eben auch der Grund, weswegen ein fanatischer bosnischer Muslim, nach dem blutigen Zerfall Jugoslawiens, das Denkmal des Dichters sprengte.
Das Denkmal stand am Platz, der Andric wahrlich gebührte. An der Drina. Die großartige, ausladende Visegrader Chronik »Die Brücke über die Drina« (1945) gehört zu den großen Werken dieses jugoslawischen Schriftstellers, der von 1892 bis 1975 lebte.
Wer den Roman heute liest, liest ihn mehr denn je als das Buch eines leidenschaftlichen Jugoslawen - dessen Nachruhm nun im Streit zerrieben zu werden scheint zwischen muslimischen Bosniaken, orthodoxen Serben, katholischen Kroaten und, wie es Andric selber war, zeittrotzigen Behauptern eines sich durch unterschiedliche nationale Kräfte stützenden Staates. Auch wenn der Autor - im Gegensatz übrigens zur Wirkung seiner Bücher - ein zutiefst skeptischer Mensch war.
Elf Bogen hatte die Brücke. Über drei Jahrhunderte schlägt der Romancier seinen Bogen. Diese Brücke, von einem aus Bosnien stammenden Wesir im 18. Jahrhundert gestiftet, wird zum topografischen Punkt zwischen Serbien und Bosnien, ein Ort, der Abendland und Morgenland verbindet und sich zur gigantischen Erzählbühne weitet. Für eine Fülle von Charakterminiaturen, für eine Sammlung extremer Schicksale, für ein farbiges Weltpanorama. Kulturen, Generationen, Lebensfälle »fließen« vorüber.
Menschen verlieren Geld, stürzen sich aus Liebe ins Wasser; hier wird ein christlicher Aufrührer, ein serbischer Bauer übrigens, von Türken gepfählt; hier empfangen geistliche Würdenträger die österreichische Armee, die das Land im 19. Jahrhundert besetzt. Von Österreichern wird die Brücke gesprengt, eine Welt sinkt in Asche, aber, so Andric, »wenn auch hier zerstört wird, so wird irgendwo gebaut«.
Ein Bauwerk als Zeuge für Aufbaukraft und Vernichtungsehrgeiz des Menschen; was überbrückt und verbindet, ist immer auch mit dem Tragischen, dem Kriegerischen verbunden, so, wie Gut und Böse niemals zu trennen, kaum in jene Übersichtlichkeit zu bringen sind, die einem den Weg auf die richtige Seite erleichtern würde. Die Brücke ist Symbol dieser Unvereinbarkeit in allen Dingen, sie trägt gleichsam den Weg der Menschen, aber bei ihrem Bau wurden Kinder lebendig eingemauert, und im Mittelpfeiler soll ein »schwarzer Mann« hausen.
In der Brücke widerspiegelt sich das ewige Prinzip von Wanderschaft, das zugleich schon das Ziel ist; der Stein steht für ein Maß der erzählten Zeit, die das Chronologische aufhebt, die das sich Wiederholende aller Zeitläufte zu etwas Einmaligem erhebt und zugleich aus dem jeweiligen Hier ein Überall macht. Ein Überall, das aus der Historie auf faszinierende Weise an die Gegenwart denken lässt. Nach den Schrecknissen des jugoslawischen Zerfalls, nach den Kriegen in Kroatien, in Bosnien und Kosovo, sowie nach dem 11. September von New York ist Andrics Roman ein großer Appell gegen alle Versuche, politische Konflikte und deren militärische »Lösungen« ethnisch zu vereinnahmen.
Es war Peter Handke, der vor einigen Jahren mit seinen literarischen Reisen auch an die Drina Andrics Werk ins Licht einer Friedens-Bewegung rückte, die Klischeebilder von Serbien auf eine geradezu wuchtig leise Art zerstörte. »Die Brücke über die Drina« offenbart, und hier hat Handke in seinen Beobachtungen angeknüpft, dass alles Trennende zwischen den Menschen ein Produkt akuter Interessen, nicht aber wurzeltiefer Unverträglichkeit geschuldet ist.