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Geheimsache Bernau

Die Provokation: Unternehmen »Tannenberg« Von Dr. sc. Günter Thoms

  • Lesedauer: 4 Min.

Ich werde propagandistischen Anlaß zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft. Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt oder nicht.«.Mit diesen Worten eröffnete Hitler am 22. August 1939 den auf dem Obersalzberg versammelten Militärs seinen Entschluss, den Krieg zu beginnen, (s. »Dokumente zur deutschen Geschichte 1936 bis 1939«, hrsg. von Wolfgang Rüge und Wolfgang Schumann, 1977, S. 123) An dem »propagandistischen Anlaß« wurde bereits fieberhaft gearbeitet. Hitler hatte mit seinen treuesten Vasallen, dem Reichsführer SS, Heinrich Himmler, und dem Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), Reinhard Heydrich, im Juli 1939 einen teuflischen Plan entworfen. SS-Angehörige sollten, getarnt als Polen in Uniform oder Zivil, deutsche Einrichtungen an der

Grenze zu Polen überfallen und einen polnischen Angriff auf Deutschland vortäuschen. Ziele dieser Provokation waren die deutsche Zollstation in Hochlinden, das Forsthaus in Pietschen und die Rundfunkstation in Gleiwitz. Vorher getötete KZ-Häftlinge, bekleidet mit polnischen Uniformen, abgelegt an den Überfallorten, sollten den »Beweis« für eine Aggression Polens liefern.

Dies ist bekannt. Weniger bekannt dürfte sein, dass bei der Vorbereitung der unter der Tarnbezeichnung »Unternehmen Tannenberg« durchgeführten Provokationen das Städtchen Bernau im Norden von Berlin eine wichtige Rolle spielte. Am 2. Mai 1933 hatte die SA die im Auftrag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes durch den Bauhausdirektor Hannes Meyer und seinem Partner Hans Wittwer errichtete Bundesschule des ADGB in Bernau okkupiert. Sie wurde zunächst als Reichsführerschule der NSDAP genutzt. 1936 erhob Heydrich Anspruch auf das Objekt. Etwa zeitgleich mit

der Ausarbeitung der Angriffspläne auf Polen begann auf dem als »Fechtschule der SS« getarnten Gelände im Mai 1939 die Ausbildung von SS- und SD-Führern, die nach der Eroberung Polens das schmutzige Geschäft der Ausplünderung und »Arisierung« betreiben sollten. Anfang August schlössen die so genannten Fechtschüler ihre Ausbildung ab.

Als der Schulleiter, SS-Sturmbannführer Karl Hoffmann, kurz darauf das Schulgelände kontrollierte, entdeckte er zwei Personen, die das Areal ohne sein Wissen inspizierten. Von Hoffmann angesprochen, legitimierten sie sich als SS-Standartenführer Dr. Hans Trummler von der Grenzpolizeischule Pretsch und als SS-Sturmbannführer Otto Hellwig von der Schule der Sicherheitspolizei Berlin-Charlottenburg. Sie informierten Hoffmann darüber, dass sie die Schule im Auftrag des RSHA besichtigten. Tags darauf teilte Heydrichs Chefadjutant, Polizeimajor Pomme, Hoffmann mit, dass in den nächsten Tagen ein größeres SS-Kommando unter Führung von Standartenführer Trummler in Bernau einträfe. Die Männer würden auf einen speziellen Einsatz vorbereitet, der strengster Geheimhaltung unterliege.

Etwa zeitgleich erhielten SS-Angehörige der 23. und 45. Standarte Gleiwitz-

Beuthen-Oppeln den Befehl, sich im RSHA in Berlin zu melden. Es waren ca. 300 SSund SD-Angehörige, die dann von Berlin aus heimlich in geschlossenen LKW nach Bernau geschleust wurden. Zu ihnen gehörte auch Hauptscharführer Josef Grzimek. Für die Auswahl der SS-Leute galten folgende Kriterien: Nicht zu jung, soldatisch erfahren und der polnischen Sprache mächtig. Grzimek berichtete später: »Keiner von uns durfte die SS-Fechtschule verlassen. Wir hatten striktes Schreibverbot. Weiterhin wurde uns bekanntgegeben, daß im Todesfalle die Angehörigen über eine Deckadresse >Reichsführer SS< benachrichtigt würden. Ferner wurde uns eröffnet, daß wir als Grenzpolizei an der polnisch-oberschlesischen Grenze vorgesehen seien und zu diesem Zweck hier ausgebildet würden. Wir mußten ausgefüllte Verpflichtungserklärungen unterschreiben, wonach wir selbst und unsere ganze Sippe bei Brechung der in dieser Erklärung uns auferlegten Schweigepflicht ausgerottet würden.« (Reimund Schnabel, »Macht ohne Moral - Eine Dokumentation über die SS«, 1957, S. 384) Die Koordinierung der in Bernau durchgeführten Ausbildung mit den Maßnahmen an der polnischen Grenze lag in Händen von SS-Oberführer Dr. Herbert Mehlhorn, der Heydrich direkt unterstellt

war. In Bernau organisierten die SS-Führer Trummler, Dr. Otto Rasch und Hellwig die Ausbildung, in die auch Schulleiter Hoffmann einbezogen wurde, der später die Einsatzgruppe bei der Zerstörung des Zollhauses in Hochlinden führte.

Nach bisherigen Erkenntnissen nutzte das RSHA die Schule in Bernau für die Vorbereitung jener SS-Kommandos, die am 31. August 1939 die Überfälle auf das Forsthaus in Pietschen und die Zollstation in Hochlinden durchführten. Offen bleibt die Frage, wo sich zu der Zeit SS-Sturmbannführer Alfred Naujocks und seine SS-Leute aufhielten, die dann den Überfall auf den Sender Gleiwitz durchführten, der die Hauptaktion des »Unternehmens Tannenberg« bildete.

Am 20. August jedenfalls teilte Mehlhorn den in Bernau stationierten SS-Angehörigen in der Aula der Schule mit, dass sie an einem geheimen Grenzeinsatz teilnehmen würden. Noch in der Nacht verließen diese Bernau Richtung Hochlinden und Pietschen. Von hier aus starteten sie am 31. August 1939 jenes Verbrechen, das die Menschheit in den Zweiten Weltkrieg stürzte.

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