Die Zumutung der Einheitsflaschen

Vor 15 Jahren: Der Pfandflaschenkollaps - ein Menetekel für den Ruin der DDR-Betriebe?

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 6 Min.
Mit »einer Träne im Knopfloch« habe er die letzte Sitzung der letzten DDR-Regierung geleitet, teilte Ministerpräsident Lothar de Maizière vor 15 Jahren einigen noch ausharrenden Journalisten mit. Am 26. September 1990 hatte sein Kabinett eigentlich nur noch den »Beschluss für die Abberufung von Leitern zentraler staatlicher Organe« zu fassen. Die Reihe der »mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 0.00 Uhr« zu Verabschiedenden reichte vom Chef des DDR-Rundfunks bis zum Leiter des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz. In den Tagen zuvor waren vom Kabinett aber noch fleißig Gesetze und Beschlüsse gefasst worden, als sei die Vereinigung noch fern. Einer dieser Beschlüsse, und zwar vom 21. September 1990, betraf die »Lage bei Pfandflaschen und Plastkästen«. Es handelte sich sicher nicht um den wichtigsten Beschluss. Aber kaum ein anderer charakterisiert die Lage besser, in der sich die DDR zwischen dem 1. Juli 1990, dem Tag des Inkrafttretens der Währungsunion, und dem 3. Oktober 1990 befand - zwischen wirtschaftlicher und politischer Souveränitätsaufgabe. Doch nun zum Beschluss. Vor dem Sommer 1990 hatte es auf dem Gebiet der Flaschenentsorgung keinerlei Probleme gegeben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten Anordnungen von 1971 und 1976 die Annahme und Rückführung von Pfand- und Rücklaufflaschen gegen die Erhebung von Pfandgeld und dessen Rückerstattung bei Rückgabe störungsfrei geregelt. 99 Prozent Getränkeflaschen waren Mehrwegflachen. Ein ausreichend hoher Pfand - in der DDR verstand man nicht viel von Marktwirtschaft, aber doch einiges von ökonomischen Hebeln - sorgte für die Rückkehr der Flaschen in die Kaufhallen und Läden, die das Leergut wiederum zu den Getränkeherstellern, volkseigenen wie privaten »kleinen Krautern«, die offensichtlich im Sozialismus ihre Nische gefunden hatten, zurückleiteten. Bei der Wiederverwendung spielte es keine Rolle, ob es sich um dieselben Flaschen handelte, die der Getränkehersteller einmal gefüllt in den Umlauf geschickt hatte, oder um fremde. Es waren schließlich Einheitsflaschen. Kaum war die Währungsunion vollzogen, begannen jedoch die Probleme, begann der Leergutstau beim Hersteller, im Einzelhandel und schließlich auch in den Haushalten. »Der bisherige Kreislauf Produktion - Handel - Bevölkerung ist unterbrochen«, hieß es in einem den Ministern am 26. September 1990 vorliegenden Papier. Weiter war darin zu lesen: »Die Probleme der Flaschen- und Kästenrücknahme führten in allen Bezirken zu erheblichen Verärgerungen der Bevölkerung.« Und schließlich der Hinweis auf die Dringlichkeit der Beschlussvorlage: »Von allen Bezirksverwaltungsbehörden wird auf eine kurzfristige Lösung gedrängt.« Die DDR-Bürger reagierten zunächst noch gewohnheitsgemäß - mit Eingaben. »Vereinzelt«, war in dem Papier nachzulesen, habe es aber auch »erste spontane Reaktionen in der Bevölkerung gegeben, die sich zum Beispiel im Zerschlagen von Flaschen in Handelseinrichtungen äußerten«. Die Ursachen für den Leergutstau lagen auf ökonomischem Gebiet, genauer: im Zusammenstoß des neuen mit dem alten Wirtschaftssystem. Nachdem Kaisers, Spar, Rewe usw. die HO- und Konsumverkaufsstellen übernommen hatten, wurden in den Kaufhallen auch alkoholfreie und alkoholhaltige »Westwaren« angeboten. Auch die Privatläden um die Ecke und die »Waren des täglichen Bedarfs« anbietenden Läden auf dem Lande verkauften nun »Warsteiner« und »Becks Bier«, Coca- und Pepsi Cola. Mit den neuen Getränken kam, was es in der DDR kaum (noch) gab: Einwegflaschen und Büchsen. Was für die Kunden eine Bereicherung des Sortiments, also eine erfreuliche Angelegenheit war, wirkte sich bei den Produzenten von Bier und Brause in der DDR böse aus. Bis September büßten die Getränkehersteller »aller Eigentumsformen«, wie die Beschlussvorlage unterstrich, ca. zwei Drittel ihres Umsatzes ein. Das bedeutete für sie nicht nur weniger Einnahmen aus dem Verkauf, sondern auch viel unnötiges Leergut, das über den Mehrwegflaschenkreislauf bei ihnen landete. Die DDR-Getränkeproduzenten begannen, die Annahme der Flaschen über ein vergleichsweise geringes Maß hinaus zu verweigern. Abgesehen vom begrenzten betriebseigenen Stauraum band das nicht mehr nutzbare Leergut zwei Drittel der Umlaufmittel der Unternehmen. Generell knapp bei Kasse wie alle DDR-Betriebe mit sinkendem Absatz, mussten sich die Bier- und Brauseproduzenten verschulden, um die Produktion überhaupt aufrecht zu erhalten. Aber Schulden für Leergut, das sie kaum noch brauchen würden? Die Weigerung der Erzeuger blockierte bald auch im Handel dringend benötigte Lagerflächen. Läden und Kaufhallen weigerten sich nun, den Bürgern die Brauseflaschen und Bierkästen abzunehmen. Die »Pfandflaschenannahmestelle«, die bisher eher unauffällig in jeder Kaufhalle ihren Platz gehabt hatte, wurde zu einem Ort des Ärgernisses - und von Ausschreitungen, wenn man der den Ministern vorliegenden »Information zur Lage bei Pfandflaschen und Plastekästen für Bier, alkoholfreie Getränke und Fruchtsäfte« Glauben schenken darf. Doch wie Abhilfe schaffen? Der Ministerrat war hilflos. Unter dem planwirtschaftlichen System das »eigentliche wirtschaftsleitende Organ« der DDR, konnte er unter den seit Juli 1990 auch in der DDR geltenden marktwirtschaftlichen Wettbewerbsbedingungen in der Wirtschaft nicht mehr intervenieren. Schon gar nicht konnten die zuständigen Ministerien - nicht einmal zeitlich begrenzt - etwas gegen die Überschwemmung mit Westgetränken inklusive deren wenig umweltfreundliche Verpackungen tun. Ja, der Ministerrat war nicht einmal im Innern in der Lage, die Produzenten dahin zu bringen, wenigstens »ihre« Flaschen wieder zurückzunehmen. Denn, so lasen es die Minister in der Beschlussgrundlage, »die bisherige flächendeckende Systematik (Einheitsflaschen und Kästen)« ermögliche keine Zuordnungen nach einzelnen Betrieben. Die Unternehmen könnten demzufolge nicht mit »ihrem« Leergut konfrontiert werden. Marktwirtschaftlichen Bedingungen angepasst, war nur eine (allerdings von manchen als bedenklich betrachtete) Methode - die der Subvention. Die Regierung de Maizière versprach den Getränkeproduzenten Liquiditätskredite in Höhe der in den Monaten nach der Währungsreform eingetretenen Umlaufmittelbindung, einschließlich eventueller, bei anderweitiger Verwertung oder notwendiger Vernichtung der Flaschen und Kästen auftretender zusätzlicher Kosten. Außerdem erlaubte der Ministerrat den Herstellern, Rückstellungen in der Bilanz als »drohende Verluste« zu bilden. Im Paragraphen über »notwendige Vernichtung« wurde im letzten Moment in die Vorlage noch der Satz eingefügt: »Bei erforderlichen Vernichtungen ist die stoffliche Verwertung vorher mit dem Ministerium für Umweltschutz, Naturschutz, Energie und Reaktorsicherheit abzustimmen.« Das alles war eine Notmaßnahme, keine Dauerlösung. Das sah auch der Ministerrat ein und versprach, demnächst »in Übereinstimmung mit den Interessenverbänden der Getränke- und Fruchtsaftindustrie« eine neue Pfandregelung als Orientierung zu veröffentlichen, die sich an die entsprechende Handhabung in der BRD anlehnt. Die hatte aber mit der Büchsen- und Flaschenentsorgung trotz »dualem System der Abfallvermeidung und Sekundärrohstoffgewinnung« und trotz »grünem Punkt« ihre Probleme. Es sollten noch vier Bundesregierungen Gelegenheit bekommen, an der Vervollkommnung der Entsorgung der Getränkeverpackungen zu arbeiten. Bis heute funktioniert das zum Vorbild erhobene Entsorgungssystem nicht einwandfrei. Vielleicht hätte man es einmal umgekehrt versuchen sollen: den Mehrwegflaschenkreislauf aus der DDR im Westen zu übernehmen. Der Ökologie hätte das sicher gut getan. Aber der Ideologie? Hätte man dem gelernten Bundesbürger »Einheitsflaschen« zumuten können?

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