Marzahn liegt in Westberlin
So alt wie die deutsche Einheit - 15-jährige Schüler aus Berlin über Ost und West, graue Farben und Anzugträger
Leicht entnervt schaut Johannes von der Schulbank hoch. »Man sollte nicht so unterscheiden, die kommt aus dem Osten, die aus dem Westen, weil beides seit 15 Jahren einfach keine Rolle mehr spielt. Von dem Thema sollte man endlich mal runterkommen», sagt er. »Ja«, fügt Maike hinzu, »dafür ist die Einigung ja da, damit das kein Thema mehr ist.« Johannes und Maike sind 15 Jahre alt. Sie wurden im Jahr der deutschen Einheit geboren. Das geteilte Land ihrer Eltern kennen sie nur aus Erzählungen, dem Fernsehen, dem Unterricht - alles gleichermaßen fern von ihrem Alltag wie der 30jährige Krieg.
Die beiden gehen ins Kant-Gymnasium in Berlin-Spandau. Eine Fahrstunde entfernt lernen Gleichaltrige in der Immanuel-Kant-Oberschule in Lichtenberg. Zwei Schulen in zwei Bezirken in einer ehemals geteilten Stadt. Dazwischen liegen Welten. Sie sind wie ein Spiegelbild eines Deutschlands, das erst vor wenigen Wochen die Mauer im Bundestagswahlkampf zurück polemisierte. Die Jugendlichen, die sich nicht mehr fragen, wo der andere herkommt, werden mitten hinein gestoßen in diese Polemik, der sie in Spandau wie in Lichtenberg gleichermaßen verständnislos gegenüber stehen. »Ich meine, die Bayern haben das doch eigentlich gar nicht so hautnah miterlebt mit Osten und Westen, oder? Die können doch gar nicht sagen, die im Osten sind frustriert und die anderen nicht«, meint Johannes aus Spandau. Und Florian zieht Parallelen zu anderen Zeiten. »Am schlimmsten an der ganzen Debatte finde ich diese Vorurteile. Die da im Osten, die da im Westen. Wir leben jetzt alle in einem Land, und auch wenn in den Regionen des Landes unterschiedliche Bedingungen herrschen, sollte man doch nicht gleich wieder eine große Masse Menschen abstempeln. Also, so was hatten wir schon mal 1945 und das war furchtbar«, sagt der Lichtenberger. Aber wie sieht es nun aus im Alltag mit Urteilen und Vorurteilen bei der Generation, die nur noch ein Land kennt? Vom Unterschied zwischen Ost und West aber wollen alle Schüler nichts mehr wissen. Und doch prägt er sie noch immer. Oder schon wieder. Ob sie Wessis seien, werden die Spandauer gefragt. Jaaa, kommt zögerlich die Antwort, rein geographisch. Aber sonst spielt das keine Rolle.
Die Grenze in den Köpfen
Im Klassenraum des Spandauer Kant-Gymnasiums ist es unruhig. Ein Interview über die deutsche Einheit. Was sie da bloß erzählen sollen. »Für uns Jugendliche ist das nicht so wichtig, ob wir jetzt im Osten gewohnt haben oder im Westen, weil wir noch sehr klein waren, aber für die Erwachsenen, glaube ich, schon. Ihre Erinnerungen kommen aus dem Osten oder Westen«, sagt Maike.
Aber, merkt Ihr denn Unterschiede in der Stadt? Eine Frage wie Zündstoff. Ehe sie sich versehen, stecken sie mitten drin in der Ost-West-Diskussion. »Ich denk immer, im Westen ist alles ordentlich, schöne Straßen, Wälder, Blumen, Wiesen. Und im Osten dann so Jugendgangs, eingeschlagene Fenster, beschmierte Häuser«, fällt Maike sofort ein. Und Anja stimmt zu: »Ja, da sind auch die Farben immer so komisch. Grau und Trübsal.«
Das Bild ist klar, das von sich selbst und von den anderen. Rüberfahren ist Quatsch. »Was soll man denn da? Da ist ja nichts«, meint Katarina. Westberlin geht bis dahin, wo es Einkaufsstraßen gibt, große Plätze und Leute. Da wird der Alex mit seinem Fernsehturm, zentraler Platz von Ostberlin, auch mal schnell mit zum Westen gezählt. Wo die Mauer lang lief? Sie malen auf dem Tisch, stellen sich Berlin vor, das U-Bahn-Netz. Aber die Kenntnisse sind diffus. Eingeteilt wird nach Erfahrungen, nicht nach Wissen. Marzahn, ein typischer Ostberliner Bezirk mit Plattenbauten, muss im Westen liegen. »Mein Vater arbeitet dort«, begründet Anja, »und der ist Wessi«. Und Kreuzberg, die Westberliner Hochburg der Aussteiger und Alternativen, wird dem Osten zugezählt. Die Motive: »Da sind so schlimme Sachen, viele Schlägereien, Alkohol«, sagt Anja. »... und viele Drogendealer«, fügt Johannes noch hinzu.
Am anderen Ende der Stadt, in der Lichtenberger Kant-Oberschule, stecken die Schüler Kreuzberg auch in den Osten. Doch ihre Gründe sind ganz andere. »Die Menschen sind da viel lockerer. Im Westen sind die Leute total angespannt. Immer nur Stress, Arbeiten. Und Arbeiten kotzt mich an, Hauptsache, ich verdien total viel. Aber in Kreuzberg sind die Menschen ja locker«, meint Julia. Überhaupt der Westen, das sind die Anzugträger, die teuren Läden, die Shoppingmöglichkeiten, ein höheres Gehalt. »Also, am besten im Westen arbeiten und im Osten wohnen. So kriegt man das meiste Geld«, sagt Franziska leicht spöttisch.
Vor allem die Schüler im ehemaligen Osten werden damit konfrontiert, dass ihre Umwelt sie in die alten Kategorien zwängt. Es ist nicht nur die arbeitslose Mutter, die erzählt, dass ihr Leben vor der Wende viel besser war. Oder der Vater, der darüber aufklärt, dass alles für den Osten zu schnell ging. »Man merkt ja auch heute noch viele Unterschiede, auch durch die Medien und Politiker«, stellt Inga fest. Florian ist davon genervt. »Irgendwer hat mal versucht, mich als Ossikind abzustempeln und da hab ich gesagt, nö, bin ich nicht. Ich bin geboren, nachdem die Mauer gefallen war und da war die ganze Nummer eigentlich schon gelaufen. Ich leg immer viel Wert darauf, gesamtdeutsches Kind zu sein«, sagt er.
Und doch bekommen die Jugendlichen aus Lichtenberg schon alleine durch ihre Familie eine ganz andere Prägung mit. Ihre Eltern haben noch den direkten Vergleich. »Ich weiß ja nicht, wie es damals war, aber jetzt ist das System doch auch nicht so überragend«, weiß Elisa. Und Florian würde gerne den goldenen Mittelweg zwischen dem Früher und dem Heute suchen.
Ferne Geschichte, fremdes Land
Das frühere System. Geschichtsstunde in Spandau. Seit zehn Minuten herrscht konzentrierte Stille, Blätter rascheln, gerunzelte Stirnen. Die Schüler lesen Texte über die DDR. Der ehemals sozialistische Teil Deutschlands ist für sie ein fremdes Land wie China oder Indien. Kommt die Sprache auf den Osten, ist die Rede »von denen da«. Weder im Osten noch im Westen wird die DDR von den Schülern als ein wesentlicher Teil der deutschen Geschichte wahrgenommen. Immer wieder kommen leise Fragen zu Begriffen wie Sozialismus, Politbüro oder die FDJ. »So, jetzt schlage ich mal vor, es lesen alle zu Ende, bis sie auch nichts verstehen und dann machen wir es mal zusammen«, unterbricht Lehrerin Barbara Flieger. Die Schüler antworten mit befreitem Lachen. Die Lehrerin weiß, dass sie die Trennung Deutschlands und seine Vereinigung genauso erklären muss wie die Weimarer Republik oder die beiden Weltkriege.
Ihre Kollegin Maritta Neumann in Lichtenberg macht die gleiche Erfahrung. »Wenn man Ost-Themen behandelt, ist auffällig, dass manchmal das Befremden über die Art und Weise, wie die Leute im Osten gelebt haben, größer ist als über das Zeitalter des Barock. Der Osten ist für die Schüler emotional weiter weg als andere Geschichts-epochen. Es irritiert sie und ich glaube, es irritiert sie auch deshalb, weil es die Geschichte ihrer Eltern ist«, sagt Maritta Neumann.
Die Vorurteile in allen Gesprächen sind nicht böse gemeint oder gar bösartig formuliert. Oft ist es den Jugendlichen nicht einmal bewusst, welche Kategorien sie der anderen Seite zuordnen. In die ganze Debatte mischen sich auch immer wieder nachdenkliche Töne. »Vielleicht ist das auch teilweise unsere Einbildung«, meint Katarina aus Spandau.
Die erste gesamtdeutsche Generation sieht ihre Unterschiedlichkeit, aber sie wertet sie nicht. Sie akzeptiert sie, ohne ein Gefühl von Über- oder Unterlegenheit aufkommen zu lassen. Gerade, weil eine deutsche Gleichheit von den Jugendlichen nicht erzwungen werden will, könnte vielleicht ein Deutschland in seiner ganzen Vielschichtigkeit irgendwann einmal angenommen werden. Denn, so fasst Maike zusammen: »Irgendwie gerät Deutschland immer wieder auseinander. Es gibt Ost und West, Ausländer und Deutsche und...
Die beiden gehen ins Kant-Gymnasium in Berlin-Spandau. Eine Fahrstunde entfernt lernen Gleichaltrige in der Immanuel-Kant-Oberschule in Lichtenberg. Zwei Schulen in zwei Bezirken in einer ehemals geteilten Stadt. Dazwischen liegen Welten. Sie sind wie ein Spiegelbild eines Deutschlands, das erst vor wenigen Wochen die Mauer im Bundestagswahlkampf zurück polemisierte. Die Jugendlichen, die sich nicht mehr fragen, wo der andere herkommt, werden mitten hinein gestoßen in diese Polemik, der sie in Spandau wie in Lichtenberg gleichermaßen verständnislos gegenüber stehen. »Ich meine, die Bayern haben das doch eigentlich gar nicht so hautnah miterlebt mit Osten und Westen, oder? Die können doch gar nicht sagen, die im Osten sind frustriert und die anderen nicht«, meint Johannes aus Spandau. Und Florian zieht Parallelen zu anderen Zeiten. »Am schlimmsten an der ganzen Debatte finde ich diese Vorurteile. Die da im Osten, die da im Westen. Wir leben jetzt alle in einem Land, und auch wenn in den Regionen des Landes unterschiedliche Bedingungen herrschen, sollte man doch nicht gleich wieder eine große Masse Menschen abstempeln. Also, so was hatten wir schon mal 1945 und das war furchtbar«, sagt der Lichtenberger. Aber wie sieht es nun aus im Alltag mit Urteilen und Vorurteilen bei der Generation, die nur noch ein Land kennt? Vom Unterschied zwischen Ost und West aber wollen alle Schüler nichts mehr wissen. Und doch prägt er sie noch immer. Oder schon wieder. Ob sie Wessis seien, werden die Spandauer gefragt. Jaaa, kommt zögerlich die Antwort, rein geographisch. Aber sonst spielt das keine Rolle.
Die Grenze in den Köpfen
Im Klassenraum des Spandauer Kant-Gymnasiums ist es unruhig. Ein Interview über die deutsche Einheit. Was sie da bloß erzählen sollen. »Für uns Jugendliche ist das nicht so wichtig, ob wir jetzt im Osten gewohnt haben oder im Westen, weil wir noch sehr klein waren, aber für die Erwachsenen, glaube ich, schon. Ihre Erinnerungen kommen aus dem Osten oder Westen«, sagt Maike.
Aber, merkt Ihr denn Unterschiede in der Stadt? Eine Frage wie Zündstoff. Ehe sie sich versehen, stecken sie mitten drin in der Ost-West-Diskussion. »Ich denk immer, im Westen ist alles ordentlich, schöne Straßen, Wälder, Blumen, Wiesen. Und im Osten dann so Jugendgangs, eingeschlagene Fenster, beschmierte Häuser«, fällt Maike sofort ein. Und Anja stimmt zu: »Ja, da sind auch die Farben immer so komisch. Grau und Trübsal.«
Das Bild ist klar, das von sich selbst und von den anderen. Rüberfahren ist Quatsch. »Was soll man denn da? Da ist ja nichts«, meint Katarina. Westberlin geht bis dahin, wo es Einkaufsstraßen gibt, große Plätze und Leute. Da wird der Alex mit seinem Fernsehturm, zentraler Platz von Ostberlin, auch mal schnell mit zum Westen gezählt. Wo die Mauer lang lief? Sie malen auf dem Tisch, stellen sich Berlin vor, das U-Bahn-Netz. Aber die Kenntnisse sind diffus. Eingeteilt wird nach Erfahrungen, nicht nach Wissen. Marzahn, ein typischer Ostberliner Bezirk mit Plattenbauten, muss im Westen liegen. »Mein Vater arbeitet dort«, begründet Anja, »und der ist Wessi«. Und Kreuzberg, die Westberliner Hochburg der Aussteiger und Alternativen, wird dem Osten zugezählt. Die Motive: »Da sind so schlimme Sachen, viele Schlägereien, Alkohol«, sagt Anja. »... und viele Drogendealer«, fügt Johannes noch hinzu.
Am anderen Ende der Stadt, in der Lichtenberger Kant-Oberschule, stecken die Schüler Kreuzberg auch in den Osten. Doch ihre Gründe sind ganz andere. »Die Menschen sind da viel lockerer. Im Westen sind die Leute total angespannt. Immer nur Stress, Arbeiten. Und Arbeiten kotzt mich an, Hauptsache, ich verdien total viel. Aber in Kreuzberg sind die Menschen ja locker«, meint Julia. Überhaupt der Westen, das sind die Anzugträger, die teuren Läden, die Shoppingmöglichkeiten, ein höheres Gehalt. »Also, am besten im Westen arbeiten und im Osten wohnen. So kriegt man das meiste Geld«, sagt Franziska leicht spöttisch.
Vor allem die Schüler im ehemaligen Osten werden damit konfrontiert, dass ihre Umwelt sie in die alten Kategorien zwängt. Es ist nicht nur die arbeitslose Mutter, die erzählt, dass ihr Leben vor der Wende viel besser war. Oder der Vater, der darüber aufklärt, dass alles für den Osten zu schnell ging. »Man merkt ja auch heute noch viele Unterschiede, auch durch die Medien und Politiker«, stellt Inga fest. Florian ist davon genervt. »Irgendwer hat mal versucht, mich als Ossikind abzustempeln und da hab ich gesagt, nö, bin ich nicht. Ich bin geboren, nachdem die Mauer gefallen war und da war die ganze Nummer eigentlich schon gelaufen. Ich leg immer viel Wert darauf, gesamtdeutsches Kind zu sein«, sagt er.
Und doch bekommen die Jugendlichen aus Lichtenberg schon alleine durch ihre Familie eine ganz andere Prägung mit. Ihre Eltern haben noch den direkten Vergleich. »Ich weiß ja nicht, wie es damals war, aber jetzt ist das System doch auch nicht so überragend«, weiß Elisa. Und Florian würde gerne den goldenen Mittelweg zwischen dem Früher und dem Heute suchen.
Ferne Geschichte, fremdes Land
Das frühere System. Geschichtsstunde in Spandau. Seit zehn Minuten herrscht konzentrierte Stille, Blätter rascheln, gerunzelte Stirnen. Die Schüler lesen Texte über die DDR. Der ehemals sozialistische Teil Deutschlands ist für sie ein fremdes Land wie China oder Indien. Kommt die Sprache auf den Osten, ist die Rede »von denen da«. Weder im Osten noch im Westen wird die DDR von den Schülern als ein wesentlicher Teil der deutschen Geschichte wahrgenommen. Immer wieder kommen leise Fragen zu Begriffen wie Sozialismus, Politbüro oder die FDJ. »So, jetzt schlage ich mal vor, es lesen alle zu Ende, bis sie auch nichts verstehen und dann machen wir es mal zusammen«, unterbricht Lehrerin Barbara Flieger. Die Schüler antworten mit befreitem Lachen. Die Lehrerin weiß, dass sie die Trennung Deutschlands und seine Vereinigung genauso erklären muss wie die Weimarer Republik oder die beiden Weltkriege.
Ihre Kollegin Maritta Neumann in Lichtenberg macht die gleiche Erfahrung. »Wenn man Ost-Themen behandelt, ist auffällig, dass manchmal das Befremden über die Art und Weise, wie die Leute im Osten gelebt haben, größer ist als über das Zeitalter des Barock. Der Osten ist für die Schüler emotional weiter weg als andere Geschichts-epochen. Es irritiert sie und ich glaube, es irritiert sie auch deshalb, weil es die Geschichte ihrer Eltern ist«, sagt Maritta Neumann.
Die Vorurteile in allen Gesprächen sind nicht böse gemeint oder gar bösartig formuliert. Oft ist es den Jugendlichen nicht einmal bewusst, welche Kategorien sie der anderen Seite zuordnen. In die ganze Debatte mischen sich auch immer wieder nachdenkliche Töne. »Vielleicht ist das auch teilweise unsere Einbildung«, meint Katarina aus Spandau.
Die erste gesamtdeutsche Generation sieht ihre Unterschiedlichkeit, aber sie wertet sie nicht. Sie akzeptiert sie, ohne ein Gefühl von Über- oder Unterlegenheit aufkommen zu lassen. Gerade, weil eine deutsche Gleichheit von den Jugendlichen nicht erzwungen werden will, könnte vielleicht ein Deutschland in seiner ganzen Vielschichtigkeit irgendwann einmal angenommen werden. Denn, so fasst Maike zusammen: »Irgendwie gerät Deutschland immer wieder auseinander. Es gibt Ost und West, Ausländer und Deutsche und...
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