Es kam der Tag, da das Feuilleton raunte, der Mann schreibe geheimnisvoll. Das Feuilleton raunte da nur listig seinen Eigennutz: Wer Geheimnisse aufbaut, will sich darin steigern, sie zu zerstören. Es kam der Tag, da der norwegische Dramatiker Jon Fosse ein wenig nackt geschrieben wurde von aufsichtsführender Kritik. Wo Fosse, Jahrgang 1959, bislang also Meister gefeiert wurde, Sprachlosigkeit auch wahrlich ins Sprachlose brennen zu können, dort meinte man plötzlich, wo Nichts gemeint sei, stünde ja auch nichts. Dann wurde es still.
Uraufführung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin: »Heiß«. Ein DT-Auftragswerk für Fosse, das ins Umfeld von Michael Thalheimers »Faust« gestellt werden sollte, dessen zweiter Teil am Freitag Premiere erlebt. Inszeniert hat Jan Bosse - beziehungsreicher Querbezug: Bosse hatte den »Faust« vor einiger Zeit am Deutschen Schauspielhaus Hamburg interpretiert.
Nichts weiter geschieht im Stück, als dass da zwei Männer einander (wieder-)begegnen. Die nicht wissen, ob sie sich kennen, sich selber und den anderen. Die ihre Erinnerungen um diesen Ort hier, einen Kai, kreisen lassen und mehr und mehr ins Ungefähre geraten. Ja. Sicher. Vielleicht. Könnte sein. Hauptwörter einer Erkundung, die keine Wahrheit zulässt. Da war noch eine Frau im schwarzen Badeanzug, jeder der beiden Männer behauptet, im Haus da vor ihnen mit ihr geschlafen zu haben; wieder verschwimmt alles bis an jene Grenzen, die in Frage stellen, was Fantasie, was gewiss sei. Es gibt diesen Kai am Meer, die Finger der Männer zeigen immer wieder hinaus aufs Wasser, und doch existieren weder Raum noch Zeit. Spielt alles vor dem Tod oder danach? »Du hast lange gelebt«, sagt der eine zum anderen. Fosses Stück illustriert, dass es in der Kunst keinen Fortschritt gibt. Alles Neue endet nur wieder in alten unaufgelösten Geschichten. Und darin, dass Sprache und Leben, Welt und Vorstellung auseinanderfallen.
Der Zuschauerpulk, der die Kammerspiele betritt, teilt sich; die einen sitzen auf schwarzem Gestühl vor der Bühne, die anderen nehmen auf der Bühne Platz, auf weißen Stühlen. Spiegelverkehrte?, nein: spiegelrichtige Welt. Keine Spielfläche zwischen beiden Tribünen. Die Spielfläche, das sind die Blicke, die wir werfen. Hauptrollen für lauter Unbekannte. Seltsamerweise schauen wir auf der Zuschauerseite so, als seien wir wirklich nur Zuschauer. Als seien die Anderen, »drüben«, Beobachtungsobjekte. Wir sind es aber auch. Jeder ist einem jeden nur Anschauungs-Material. Selbst- und Fremdbild: eine jener Spannungen, die an der Balance der Welt reißen.
Die beiden Männer des Stücks befinden sich in der Zuschauermenge auf der Bühne. Unauffällig. Und doch auch nicht. Christian Grashof, blond und in der Bundjacke des verspäteten Rockers, gähnt barbarisch, und Wolfgang Koch im dicken Anorak schaut schon mal in nervöser Blitzartigkeit hinüber zu dem anderen. Später, wenn die Leute die Bühne verlassen haben (es sind Statisten!, erst zum Schluss sitzen sie wieder da; sie uns, wir sie im Blick) wird auch die Frau auftauchen - Anne Ratte-Polle aber kommt aus dem Block der zahlenden Zuschauer.
Grashof und Koch. Zwischen beiden ein ungelenkes, mürbendes, flehendes Spiel der Annäherung. Komische Umarmungen, trauriges Anstarren. Grashof, goldglänzende Sonnenbrille und die Hände oft im Schritt: ein schaumgebremster Gockel. Koch: mit einer Wasserflasche Verlegenheitskomik betreibend; mit einem T-Shirt, auf dessen Bauch Flammen züngeln; und dekoriert mit dem Schmierenstrich eines Menjoubärtchens, das jeden Mann lächerlich bis verschlagen macht. Becketts Estragon und Vladimir treffen, vielleicht, auf Faust und Mephisto, aber allen ist das Drama entzogen, der feste Stoff, das verbindliche Leben, und es würde niemanden wundern, würde sich Anne Ratte-Polles Frau irgendwann in den Ruf einer der Tschechowschen »Drei Schwestern« hineinseufzen: »Ach, wenn man nur wüsste; wenn man nur wüsste ...« Man weiß nichts.
Man sieht nur die Herzensnot von Wesen, deren Gestern heute ist, und deren Heute immer ins unbekannte Gestern rutscht. Diese beiden sind so greifbar in ihrer Banalität, aber sie bleiben sich unbegreiflich. Der eine hat von der Frau ein Kind, der andere drei Kinder. Ja. Sicher. Vielleicht. Könnte sein. Inmitten der Robustheit und immer neu gespeisten Verdutzungsenergie, mit der da gespielt wird, weht mehr und mehr der Hauch einer tiefen Angegriffenheit über die Szene. Tote Stimmen, die nach Leben rufen; Lebensschreie, denen der Tod das unsichere Stammeln auf die Zunge legt. Fosse schrieb ein kleines Stück über ein Spiel ohne Welt. Drei Clowns irren durch einen leeren Universalzirkus. Am Schluss wieder drei unter vielen. Eingetaucht aufs Neue in die Masse der Zuschauer, die auf Zuschauer schauen. Jetzt könnte von neuem beginnen, was keinen Anfang und kein Ende hat.
Nächste Aufführung am 7. 10.