Ende der Bescheidenheit
Das Festival »Foreign Affairs« ist eröffnet
Seit Ende September ist Berlin um ein weiteres Festival reicher. Von den herbstlichen Festwochen, über die Filmfestspiele, das Theatertreffen, die jüdischen Kulturtage und das gerade erst beendete Literaturfestival bis zu den soeben beginnenden »Berliner Festspielen« reicht eine atemberaubende Festivalkette nach der anderen - man entkommt ihrem Großangebot nicht. Und meistens hat man dann in der Tat etwas verpasst, wenn man sich’s nicht in den privaten Kulturkalender eingetragen hat.
Und tatsächlich versäumt man etwas, wenn man sich die nach Billy Wilders berühmtem Berlin-Film genannten »Foreign Affairs« entgehen lässt - ein Festival, das eine literarisch-kulturelle Traditionslinie stiften will mit einer kleinen aber feinen kostenlos den Festspielgästen ans intellektuelle Herz gelegten Broschüren-Edition, die eine verschworene Festspiel-Klientel sechs mal im Jahr für die Zukunft bei der Stange halten möchte. Eine neue, ganz andere Art von Festival.
Nicht gerade bescheiden klingt die Ankündigung von zweiundzwanzig Bühnenvisionen, von »neunzehn starken künstlerischen Zeugnissen aus der ganzen Welt, mit ihren Befürchtungen und Träumen, ihren künstlerischen Perspektiven und kritischen Analysen unserer Welt, unserer Zeit, unserer Gesellschaftsanalysen«. Von intellektueller Bescheidenheit des großen Anspruchs kann dabei nicht die Rede sein - im Gegenteil: »Die Welt ist komplex. Und was komplex ist, kann nicht vereinfacht werden.« Aus Afrika, Asien, Lateinamerika, Japan - aber auch aus Deutschland und Berlin - hat Intendant Thomas Oberender mit seiner Kuratorin Frie Leysen Künstler zusammengerufen, deren Gemeinsamkeit im Performativen liegt, in einer kritischen Sicht auf Europa und den Westen. Die Bühne ist hier Provokation aus Afrika, Asien, Lateinamerika, aus Deutschland und nicht zuletzt aus Berlin zum Ausprobieren neuer Sprachen des Politischen in Tanz, Film, Bildender Kunst, Architektur, Musik und eben der Bühne als Sprachraum.
Alles an diesem Festival ist ungewöhnlich und verspricht viel. Ob diese Versprechen eingelöst werden, wird eine Bilanz des ersten Jahres zeigen - tatsächlich ist der aktiven Beteiligung des Publikums und seiner Kritik von vornherein ein relativ großer Zeitraum gewidmet. Foreign Affairs »ist eine Einladung auf eine fremde Affäre mit unserer Zeit und unserer Welt, in dieser Stadt«. Wir werden eingeladen zu Partys und Konzerten mit einem Glas Wein, zu feiern und Fragen zu stellen. Die Zeitgleichheit mit der internationalen Occupy-Bewegung ist nicht zufällig sondern willkommene Absicht: Die Nr. 4 der unprätentiösen Festival-Broschüre enthält einen Essay über einen der geistigen Väter des amerikanischen Anarchismus und radikaler Staatskritik: Henry David Thoreau, der in Deutschland viel zu wenig bekannt ist, von dem aus eine direkte Linie zum Occupy Movement gezogen wird.
Das Licht, das »Foreign Affairs« in Berlin entzündet, soll dabei nicht von der Fülle thematischer Angebote während der elf festivalfreien Monate verdunkelt werden. Denn diese Themenangebote haben, bei aller Vielfalt, doch einen gemeinsamen kulturell-politischen Nenner: Eben den Blick von außen auf Europa, den kritischen Blick auf unseren Kolonialismus, unsere kulturellen Scheuklappen, mit der schwierigen Hypothese, dass die Künste im weitesten Sinne des Wortes eine Sprache zu entwickeln vermögen, die sich außerhalb der nominalen Diskurse bewegt und unsere Welt-Wahrnehmungen flexibilisiert. Das Theater, die Bühne, Tanz und Musik transzendieren das Nationale und stiften nicht nur sprachliche Diskursebenen sondern eben auch solche ästhetischer Kommunikation mit der impliziten Chance der Problemlösung gesellschaftlicher Widersprüche auf den verschiedensten Ebenen.
Das Beste dürfte sein, sich ganztägig an den Ort des Geschehens zu begeben - zu den Spielorten Haus der Berliner Festspiele, Sophiensäle, Kleiner Wasserspeicher, Ballhaus Ost - und sich dann treiben und überraschen zu lassen, in den Pausen in Ruhe und mit Konzentration die »Edition 4 Berliner Festspiele« zu lesen. Die intellektuelle Anstrengung, die dieses so ganz andere Festival verlangt, die zahlt sich aus. Hier noch einmal die »Töne«, die Thomas Oberender vorgibt: Einsamkeit, Kolonialismus, Konsumismus, Ökologie, Rassismus, Manipulation, Erinnerung, die bedrückenden und beglückenden Dynamiken von Gemeinschaften, das (Über-)Leben des Einzelnen in der Gesellschaft, unsere Unfähigkeit, mit anderen und mit Differenzen umzugehen. Ohne Übertreibung: ein ganz anderes Festival.
»Foreign Affairs« läuft bis 26.10.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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