Der Einzelne im Fokus

Wende-Dokumentarfilm »Material« von Thomas Heise im Zeughauskino

  • Kira Taszman
  • Lesedauer: 3 Min.

Der 3. Oktober, Tag der so genannten deutschen Einheit, bringt gewisse Rituale mit sich. Reden werden geschwungen, Geschichte wird zum Mythos verklärt - alles mit zeremoniös-artifiziellem Gestus. Wer die Wendezeit und die Entwicklung der DDR zu den neuen Bundesländern gerne nüchterner nachempfinden möchte, dem sei zur offiziellen Feier ein künstlerisches Gegenprogramm empfohlen.

Thomas Heise, Dokumentarfilmer mit Ostbiografie, dessen Filme in der DDR nie aufgeführt wurden, hat die aufwühlende Zeit vor und nach dem Fall der Mauer hautnah gefilmt. Sein fast dreistündiger Dokumentarfilm »Material« - er läuft am 3. Oktober im Zeughauskino - verwendet Aufnahmen der späten DDR um 1989/1990 bis hin zu solchen im vereinten Deutschland des Jahres 2008.

Da aus den verschieden Fragmenten nie separate Filme gemacht wurden, ist der Titel des Films durchaus wörtlich zu nehmen: Die sich über 20 Jahre erstreckenden Bilder sind aneinander montiert und selten in ihrem Kontext erklärt: Historische Vorbildung ist beim Sichten von Vorteil. Zuweilen sind die Übergänge unvermittelt, etwa von der Räumung der Mainzer Straße im Jahre 1992 (deren Bilder aber auch gut ins wilde Kreuzberg der 80er passen könnten) ins Ost-Berlin des Jahres 1989. Hier sehen wir, wie der Theaterregisseur Fritz Marquardt am Berliner Ensemble probt. Das heißt, man erblickt ihn im Gespräch mit dem Bühnenbildner vor einem Bühnenmodell. Später sitzt er neben dem obligatorisch Zigarre qualmenden Heiner Müller, der die Betonung der Schauspieler verbessert. Und noch später erfährt man, dass die Proben am 10. November nicht stattfinden können, da Schauspieler und Techniker die Gelegenheit nutzen, West-Berlin zu erkunden.

Beim Filmen konzentriert sich Heise meist auf wenige Personen. Wenn am denkwürdigen 4. November 1989 ein jovialer Günter Schabowski den die Kamera haltenden Heise fragt, ob er auch Schauspieler sei - nur wenige Minuten, bevor er vom auf dem Alex versammelten Volk ausgebuht wird - erweist sich Heise selbst als Akteur, als Protagonist seines Materials und nicht nur als Bewahrer von Zeit. An anderer Stelle sprengt in einem ostdeutschen Kulturhaus 1992 eine Horde Glatzen eine Filmvorführung, indem sie erst Naziparolen grölt und dann den Saal verwüstet. Daraufhin bitten aufgebrachte normale Zuschauer den Regisseur, die Kamera abzuschalten und werfen ihm Voyeurismus vor. So thematisiert Heise über die Zeitgeschichte hinaus auch sehr konkret das Dilemma eines jeden Dokumentarfilmers: Wie geht man mit seiner Verantwortung beim Filmen realer Menschen um, wann überschreitet man seine Kompetenzen?

Doch vor allem für das Festhalten von Historie, die weder in den offiziellen Feiern, noch Geschichtsbüchern Eingang findet, muss man Heise dankbar sein. So dokumentiert er eine neu entstehende Diskussionskultur zur Wendezeit, sei es in Betrieben, vor dem SED-Gebäude (vor dem Egon Krenz von den Genossen noch bejubelt wird) oder gar im Gefängnis. Der Strafanstalt Brandenburg widmet er besonders viel Zeit, filmt Wortmeldungen von Wärtern, Erziehern, aber auch Insassen. Aussagen eines Gefangenen, der schildert, dass die Reintegration in die DDR-Gesellschaft in den 80er Jahren ihm auch dadurch misslang, dass er in einer Bruchbude ohne jegliche sanitäre Standards hausen musste, berühren.

Stets geht es Heise um das Individuum. Selbst bei Massenszenen auf dem Alexanderplatz rückt er einzelne Menschen in den Fokus, nicht die Menge. Wenn er diese filmt, wie sie zur Kundgebung strömt, geschieht es aus kühler Distanz. Umso ernüchternder erscheinen dann auch Bilder des zum Stahlgerüst verkommenen Palasts der Republik, dessen Demontage endgültig das Ende einer Epoche besiegelt: jener des Auf- und Umbruchs.

3.10. um 16 Uhr, Zeughauskino Unter den Linden 2. Eintritt frei

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