Der Glücksfall
Zur rechten Zeit kommt Salman Rushdie nach Berlin, um seine Biografie vorzustellen - und um uns ins Gewissen zu reden
Dass Salman Rushdie gerade jetzt sein neuestes Buch veröffentlicht, ist ein Glücksfall. Erstens, weil er generell wie sonst kaum jemand den grassierenden religiösen Fanatismus anprangert. Zweitens, weil er uns mit diesem Buch zu dem Zeitpunkt zurückführt, an dem diese Welle zum ersten Mal massiv die Aufmerksamkeit Europas errang - allerdings ohne in ihrer Bedeutung erfasst zu werden.
Wenn das Buch eines Literaten als Glücksfall einzustufen ist, weil es aktuelle Ereignisse in einem neuen Licht erscheinen lässt, dann liegt das normalerweise an der schöpferischen Kraft des Autors, am genauen, ungewöhnlichen Blick der Autorin. Bei Rushdies Neuerscheinung ist hingegen nicht die Subjektivität des mit höchsten literarischen Weihen versehenen Autors das Entscheidende. Es ist der Fakt, dass hier seine eigene Geschichte erzählt wird: die profane, dennoch wie ein Thriller anmutende Leidensgeschichte eines Menschen, der sich von Mächten angegriffen sieht, deren Existenz er vorher nicht einmal geahnt hatte. Dass der Autor hier zum Objekt wird, ist - aller literarischen Qualität, die dem Buch im deutschen Feuilleton fast einstimmig attestiert wird, zum Trotz - der Glücksfall, der vielen Menschen die Augen öffnen wird.
Was in Rushdies »Joseph Anton« (nach seinem in der Anonymität gewählten Pseudonym) betitelten Autobiografie (siehe dazu »nd« vom 24.9.) erzählt wird, ist »ein Leben wie in einem Bond-Film: gut für einen Roman, aber nicht so toll, wenn man drin steckt«, wie er bei der New Yorker Buchvorstellung gesagt haben soll. Der Muslim, der ohne bewusste Provokation zum weltweiten Hassobjekt für muslimische Fanatiker und durch einen ihrer Führer zum Abschuss freigegeben wird.
Erstmals jagt ein Staat ein Individuum
»Zum ersten Mal hatte ein Staat einem Individuum den Krieg erklärt« - so fasste es Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der »Frankfurter Allgemeinen« und Gesprächspartner Rushdies, am Montag. Am Valentinstag 1989 hatte der iranische Religionsführer Chomeini zum Mord an dem renommierten Autoren und an allen, die zur Veröffentlichung seines Romans »Die satanischen Verse« beitrugen, aufgerufen. Rushdie wurde zur Symbolfigur, zum für die Redefreiheit kämpfenden Intellektuellen.
Dass am Montag in Berlin zwei Handvoll Kameras und Fotoapparate auf ihn gerichtet waren, überrascht also nicht. Eher die noch größere Zahl derer, die ihn im Anschluss an die Buchvorstellung um ein Autogramm oder ein gemeinsames Foto baten - bei einer Presseveranstaltung!
Der indischstämmige Brite ist nicht nur äußerlich (Bauch und Halbglatze; große Augenlider, die ihn bisweilen schläfrig aussehen lassen) ganz 65-Jähriger. In Mimik, Gestik und Stimme ruhig, aber nicht humorlos, vermittelt er den Eindruck, zu wissen wovon er spricht. Mit dieser trotz der ihm immer wieder nachgesagten Eitelkeit unprätentiösen Art spricht er ein ganz heikles Thema unserer Zeit an: religiösen, vor allem islamischen Fanatismus.
Rushdie erinnerte in Berlin daran, dass die Aufklärer seinerzeit mehr als gegen den Staat gegen die Kirche gekämpft hätten - kämpfen mussten. »Wir dachten, wir hätten den Kampf gewonnen«, sagte er, »doch heute gibt es den selben Kampf, gegen eine neue Kirche.« In den 1960ern sah es nach Säkularisierung aus, auch in der arabischen Welt, doch das trog, stellt Rushdie fest. Im Interview mit der Wochenzeitung »Die Zeit« sagte er neulich, er habe keine Vorstellung davon gehabt, dass er mit »Die satanischen Verse« seine Sicherheit riskierte. »Religiösen Fanatismus kannte man nicht.« Seitdem hat nach Ansicht Rushdies ein fataler Wandel den Islam heimgesucht. Doch er hat durchaus einen geweiteten Blick: »Wir leben in einer Gesellschaft, deren Plage die Rückkehr der Religionen ist.«
Entrüstungsindustrie hat Erfolg
In der islamischen Welt sieht Rushdie eine »Entrüstungsindustrie« am Werk, die nur auf Kritik warte. Und die westlichen Linken nähmen heute immer Rücksicht auf die Empfindlichkeiten der größten Islamisten, klagte er unlängst der britischen Zeitung »The Guardian«.
Rushdie zeigt uns, dass das Grundproblem nicht neu ist und dass es nicht nur mit der neuesten Form von Imperialismus und dem vermeintlich unausweichlichen Zusammenstoß der Kulturen in unserer immer globaleren Lebenswelt zu tun hat.
»Das iranische Regime hatte schon vor der Fatwa gegen mich in Europa Leute umbringen lassen«, erklärte er. »In Berlin gab es dann später das ›Mykonos‹-Attentat.« Auch dass ein relativ prominenter Autor wie Rushdie ins Fadenkreuz geriet, war »kein isoliertes Ereignis«, sagt der Gejagte heute und verweist auf einen türkischen Journalisten, einen ägyptischen Schriftsteller und einen algerischen Autor, die zu jener Zeit aus den selben Gründen umgebracht worden seien. Chomeini habe den Hass auf sein Buch geschürt, um die wegen Irans »sinnlosem« (Rushdie) Krieg gegen Irak zum Teil widerspenstigen Massen hinter sich zu einen.
In seiner Autobiografie schreibt Rushdie, die Fatwa gegen ihn und die Anschläge auf Verleger und Übersetzer seien nur ein Prolog gewesen, den damals niemand in seiner Bedeutung verstanden habe. Er zieht Alfred Hitchcocks Film »Die Vögel« heran, wo in einer Szene im Hintergrund ein einzelner Vogel auf einem Klettergerüst für Kinder Platz nimmt, was keiner der Filmfiguren auffällt. Doch werden es immer mehr der mörderischen Vögel, so dass bald Horror ausbricht. Auf seinen Fall bezogen schreibt der Brite, die Vögel, die jedem die Brisanz klarmachen, seien ein Dutzend Jahre später zwei große Flugzeuge gewesen. 1989 + 12 = 2001. Rushdie hatte sein persönliches 9/11 lange bevor wir von Osama bin Laden und Al-Qaida hörten.
Seitdem hat es aber auch positive Zeichen gegeben. »Zum 20. Jahrestag der Fatwa befragten britische Medien muslimische Führer, die damals gegen mich gehetzt hatten«, erzählt Rushdie gegenüber »nd«. Viele von ihnen hätten ihr damaliges Verhalten glaubwürdig bedauert. Sie verstünden heute den Gedanken der Redefreiheit, meint Rushdie. Diese Redefreiheit war ihm sein Martyrium wert, sagte er unlängst.
Wirklich bedroht fühlt sich der nach wie vor als Hassobjekt Dienende heute nicht mehr. Längst erklärte die iranische Staatsführung, nicht mehr gegen ihn vorzugehen. Längst lebt er nicht mehr in der Anonymität, ohne Wachschutz. Doch im Zuge der aktuellen islamistischen Proteste gegen die Redefreiheit kam auch er wieder aufs Tapet. In Pakistan wurde sein Konterfei verbrannt; eine iranische Stiftung erhöhte das Kopfgeld auf ihn.
An seinen Romanen, die nach der Fatwa erschienen sind, wird das Biografische nicht ersichtlich, glaubt Rushdie. Er habe sich gegen einen Effekt der Hasskampagne auf sein Werk gesträubt.
Einige dieser Bücher seien sogar kritischer gewesen als »Die satanischen Verse«, sagt er gegenüber »nd«. Von Reaktionen darauf in Iran habe er jedoch nichts mitbekommen.
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