Der Ort Kurawaka
EIN ANDERES LAND: Short Storys aus Neuseeland
Bill Manhire, der Herausgeber, hält sich im Hintergrund. Obwohl er in seiner Heimat ein bekannter Lyriker und Autor von Short Storys ist, hat er bei der Zusammenstellung dieses Bandes 18 Schriftstellerkollegen den Vortritt gelassen. Und er hat sich für Texte entschieden, die eben nicht jenen Klischees entsprechen, die einem durch den Kopf geistern, wenn man an Neuseeland denkt.
»Ein anderes Land« - der Titel dieser Sammlung ist somit Programm. Dass dieses Andere einem mitunter auch ziemlich nahe rückt und bekannt vorkommt, ist für gute Literatur normal. Auch spiegelt es unsere globalisierte Welt. Allerorten quengeln Kinder und müssen erzogen werden (Kirsten McDougall), ereignen sich seltsam vage Begegnungen zwischen Frauen und Männern (Eleanor Catton), sind kleine Mädchen durch ihre Naivität in Gefahr (Anna Taylor), kommt ein Mann durch den Kuss eines Mannes aus dem Gleichgewicht (Pip Adam), wird ein Ertrinkender gerettet (Damien Wilkins) oder trifft eine junge Frau nicht dort ein, wo sie erwartet wird (Tim Corbellis).
Nur dass hier alles hintergründiger, schwebender ist als man es gewöhnlich von Short Storys vermutet. Lieber als eine Pointe wählen die meisten Autoren einen offenen Schluss. Da denkt man, dass die Geschichte doch weitergehen müsste, und blättert vielleicht noch einmal zurück zum Anfang, um herauszufinden, was im Text das Eigentliche ist. Womit nicht gesagt sein soll, in diesem Band sei irgendetwas »kompliziert« geschrieben.
Von der ersten bis zur letzten Seite: Alles liest sich leicht und spannend. Jedes Mal wird man überrascht, findet sich in einer völlig neuen Situation wieder. Alltäglich-Banales kippt ins Ungewöhnliche, Fantastisches soll auf ganz realem Boden wachsen. Am »Tag, an dem Hemingway starb« wirft eine sonst so verbissen kalte Frau Eier an die Wand (Owen Marshall). Ein alter Mann verlässt heimlich seinen Schaukelstuhl und begibt sich wieder einmal auf die Flucht vor seinen Töchtern, den Vegetarierinnen, denn schon zwanzig Jahre lang geben sie ihm kein Fleisch zu essen (Maurice Gee). Ist das nun komisch oder tragisch?
Warum verweigert ein Vater dem Sohn so hartnäckig die alten Schuhe, die dieser sich so sehr wünscht? Was ist da zwischen den beiden (William Brandt)? Und was soll man davon halten, dass ein junger Mann sich in die Lüfte erhob - auf einer Bahre für den Transport von Särgen und mit Purpurflügeln, für die unzählige Speichen von Regenschirmen verarbeitet wurden? Er flog davon und wurde nie wieder gesehen. Oder hat sich eine junge Frau das alles ausgedacht, weil ihr Kind einen berühmten Vater haben soll (C. K. Stead)?
Totenbeschwörungen immer wieder. Mal ist es der Vater, der auf rätselhafte Weise verschwand (Craig Cliff), oder ein Mann wird durch den Tod seiner Geliebten in Schwermut gestürzt (Vincent O'Sullivan). Schwermut kann auch eine ganze Familie überschwemmen. Wie finden sie aus dem Unglück heraus (Keri Hulme)? Und dann wieder Trost, wie in der bezaubernden Geschichte »Seide« von Joy Cowley: Eine Frau erwartet den Tod ihres Mannes und näht ihm ein letztes Gewand. Er stirbt, und ihr scheint ... Aber das muss man selber lesen.
Wunder über Wunder. Eine alte Frau wird wahrscheinlich noch nach dem Tode Karten spielen (Witi Ihimaera). Und was für seltsame Dinge tragen sich in der kleinen Stadt zu, die am 24. Januar 1954 den Besuch der Queen erwartet. In der Nacht zuvor zeigt sich ein Meteor, grün und weiß, Hühner singen im Chor, eine Here-ford-Kuh schwebt über eine Hecke, Katzen und Hunde knien nieder, und im Botanischen Garten wird ein Kind geboren. Aber es ist keine Heilige Nacht, nein, auch wenn die Autorin, Fiona Farrell, geschickt mit diesem Motiv spielt. Wir glauben nicht, dass die 15-jährige Skinny Louie zum Himmel aufgestiegen ist, indes können Menschen durchaus verändert werden, wenn ein Baby an ihnen vorbeigetragen wird.
Das Leben nicht als Linie, sondern als Kreis. Alice Tawhai ruft ihre Maori-Vorfahren an, und Tina Makereti führt uns vor Augen, wie die verschiedenen Schöpfungsmythen der Welt miteinander verbunden sind. Ein Bauer ist einsam, er sucht eine Frau. Seine Mutter hat Mitgefühl mit dem Sohn. »Kennst du den Ort Kurawaka?«, fragt sie ihn. Er wusste schon lange, dass dies ein ganz besonderer Platz war, und da fiel ihm auch der alte Zauber wieder ein ...
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