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Wie malt man Licht?

DURS GRÜNBEIN ver-dichtet viele Zeiten zu einer Zeit

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Fast am Schluss des Bandes steht die fragende Zeile: »Ist Lebensfreude nicht ein Mysterium?« Am Anfang seiner Seiten hatte das Buch gefragt, was auf dieser Welt denn überhaupt Gewissheit sei, wenn doch »Existenz der reine Zufall ist und Existieren/ Die Quadratur der Zufälle mittels Atemzügen«. Tolles Bild, du stehst sofort im Elend. Begreifst, dass Atmen nichts mit Freiheit zu tun hat, es ist Zwangsarbeit, aber ein schönes Beispiel, wie wir Nöte als Tugenden formulieren.

Niemand nämlich atmet frei, jeder holt Atem, weil er muss. Die ach so strotzenden Atemzüge, zu denen ausgebreitete Arme passen und ein gereckter Brustkorb (frei!, frei!, frei!), auch sie verlängern uns letztlich nur in die Zufälligkeiten, in die Stumpfheiten, in die Gewöhnlichkeiten, in die Vergeblichkeiten des Daseins; nichts hält, nichts bleibt, nichts spricht uns wirklich frei, nichts schützt uns vor dem Vernutzen, dem Verstricken, dem Verschwinden. Angesichts dessen kann tatsächlich nur immer diese eine Frage wiederholt werden: »Ist Lebensfreude nicht ein Mysterium?«

Ist sie!, dichtet Durs Grünbein. Lebensfreude ist das Unergründliche, ist das nicht gänzlich Logische, das nicht absolut Herleitbare. So wie unergründlich bleibt, was wir bereisen, berühren. Landschaften, Lektüren, Lustgegenden und Leidensorte - dieser Dichter durchquert das große Ganze mit Blick für die geringen Dinge - quasi als Tropfenforscher überquert er Ozeane, er steht als Verwandter des Staubkorns am Fuße der Kathedralen, und die Nachklänge geistgroßer Zeiten sitzt er auf dem Barhocker aus, im nichtigen Heute aus Partnerschaftsagenturen und einer Weltenweite, die auf Postkartenständer passt.

Immer also begegnen in diesen Versen das Mächtige und das Marginale einander. Zu spüren ist Grünbeins Sehnsucht nach anderen geschichtlichen Passagen, aber: »Hinter den Urgroßeltern fängt der Abgrund an«, so heißt es in »Ahnenforschung«. Wer die Menschen geschichte-wärts, im Hinblick auf deren vermeintliche Vernunftentwicklung betrachtet, dem bietet sich als Konsequenz nur eine Absage an die politische Wachheit der Menge: »Sei ruhig für dich, entferne dich,/ Doch ohne Hochmutsperspektiven./ Die Erde ist veränderlich./ Was, wenn die meisten allzeit schliefen?«

So schreibt ein Aufgeklärter, dem der hohe Stand des in Jahrtausenden gesäten und geernteten Poetischen viel bedeutet. Der aber illusionslos bleibt im Blick auf den Menschen, der sich im rissigen Realen durchwindet, der vor verhangener Welt einfach nur zurechtzukommen hat - und den ideologische Selbstberuhigungen und hybride Vorwärts-Hymnen schlichtweg verhässlichen. Schon ein Blick in die mittelmeerische Tierchenwelt lehrt Grundlegendes: »Das ist die See, wie sie lebt. Sie feiert/ Ende und Anfang einer jeden Geschichte, macht/ Aus jeder Moderne eine Antike der Zukunft,/ Aus jeder Antike die versunkenste aller Modernen.«

Die Sprache Grünbeins schwingt, breitet Flächen aus, schlägt weite Assoziationsbögen. Und sie hat Spaß an Einfremdungen: Paranthese, Paroxysmen, Regression, Tapisserie, Radiolarien, Architheutis, Ludovistischer Traum, Theodektes von Phaselis ... Diese Lyrik, zum Teil lange Erzählgedichte, spielt mit der Klugheit, mit der Belesenheit ihres Autors; der bekennt sich souverän und immer wieder überraschend gleichniserregt zu einer enzyklopädisch befestigten Lust am Denken, am Durchwandern der Geografien und der Bildungsgüter, so, wie man Weingüter zu deren schönster Zeit durchwandert. Gelassen also, und offen für eine Flut von Fragen, wie sie in dieser Menge selten durch einen Gedichtband geht: »Was ist Materie? Was ist Gedächtnis?« - »Genau gezählt: Wie viele Haare machen eine Strähne?« - »Heißt das, wir sind … Sind nicht allein in unserem Leib?« - »Wie malt man Licht?« - »Kann man sein Schicksal erzwingen?«

Poesie ist dem Dichter eine Erzieherin. Sie erzieht »zum permanenten Widerstand gegen den Fatalismus der Fakten und ist damit politischer als jede Politik«, wie er selbst sagte, Poesie ist eine »Unabhängigkeitserklärung«, dem Menschen ausgestellt, »während Zeit ihn davonreißt«.

Euphoria: »ein Reich nicht von dieser Welt«. Aber: Dass es Hochgefühl immer wieder gibt, dass besagte Lebensfreude stets neu aufkommt, das leugnet Grünbein nicht, und er belässt dieser Freude die schwebenden Gründe. Um jeden Kern profaner Erfahrungen: das Umlicht eines Zaubers, der vom absehbaren Sterben noch nichts weiß.

Vielleicht ist der Mensch ein armseliger Bettler. Aber in diesen Versen wirkt er, als habe er sich sein Gesicht - sehnsüchtig nach Erhabenheit - für kurz mal aus einem Altarbild entwendet.

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