Eine Frage der Beleuchtung
JUTTA VOIGT: Spiegel-Blicke und bestes Feuilleton
Nicht jung gestorben zu sein, ist ein Hauptgewinn. Der Preis dafür ist bekanntlich das Älterwerden.« Wenn Jutta Voigt das am Anfang ihres Erfahrungsberichts über das Leben im Angesicht der Goldenen Hochzeit notiert (man hat jung geheiratet in der DDR), dann darf man auf die Form des Dementis gespannt sein. Jutta Voigt kultiviert die Objekte unerwarteter Einsichten wie eine leidenschaftliche Großstadtgärtnerin ihre Balkonpflanzen. Das ist wie großes Kino der kleinen Momente, Truffaut oder Godard im Prenzlauer Berg von einst.
Wie die Reporterin Jutta Voigt, lange Jahre beim »Sonntag«, dann bei der »Wochenpost«, wollte ich immer schreiben können. Ich sehe mich noch in der Redaktion der »Wochenpost« stehen, irgendwann 1991, da trug ich meine Texte erwartungsübervoll hin, kam einige Tage später wieder, mir das Urteil anzuhören.
Jutta Voigt, Kulturchefin der »Wochenpost«, schien amüsiert von so viel Enthusiasmus. Sie nahm, las und sagte: Gut, das drucken wir. Sie bezauberte eher maskulin in einer schwarzen Lederjacke, kunstvoll in Unordnung gebrachten Lockenwirbeln und blitzenden Augen, beim nächsten Mal dann wieder höchst feminin in einer Art vorgezogenem Abendkleid. Ich wusste damals noch nicht, dass sie am liebsten in Cafés und Bars ging: Leute beobachten, sich was erzählen lassen.
»Simple Storys« war dann auch der Untertitel ihres ersten Buches »Der Tiger weint«. Dass Jutta Voigt neugierig auf Menschen ist, war damals mein Glück. Und ich sah einen Text von mir gedruckt und dachte, was einmal geht, geht auch öfter!
Für dieses Berliner Kriegskind blieb der Hinterhof Biotop der Selbstbehauptung. Die Kriegstrümmer waren ihr Spielplatz, ein Stück Sahnetorte der höchste Genuss. Ihre Schlagfertigkeit gibt sich bis heute mal ironisch, mal lyrisch, meistens auch kokett. Weil sie dann später Philosophie studiert hatte, bekamen die Pointen etwas Gefährliches, die Konversation wurde abenteuerlich.
Kann sein, dass mich Jutta Voigt damals mit ihrer so facettenreich zelebrierten Weiblichkeit einen Moment lang verwirrt hat. Als ich dann einmal einen Text von ihr über das legendäre Liebespaar Marina Vlady und Wladimir Wyssozki las, das sie Mitte der sechziger Jahre in Moskau traf, war ich irritiert. Wie ich auch rechnete, ich kam auf keine Zahl, die zu dieser jugendlichen Aura passte.
Irgendwann, das war klar, würde auch Jutta Voigt (von der Arno Fischer 1962 wundervolle Fotos für die »Sibylle« machte) etwas ihr völlig Neues im Spiegel erblicken: das Alter. Und was sie dabei entdeckte, wurde zweifellos wieder bestes Feuilleton. Wenn der Körper auch seine Form verliert, so doch nicht gleich die Sätze! Das Buch ist voller Sentenzen wie dieser: »Das Leben ist zu kurz, um ungünstig beleuchtet zu werden.« Gibt es eigentlich eine weibliche Form vom Dandy?
Das frühere Ich muss gleichsam immer wieder eingefangen werden: »Erinnerung ist die emotionale Reserve des Alters, sie hält zusammen, was zu zerfallen droht.« Manches hat sich Jutta Voigt auch erzählen lassen von Freundinnen, die ebenfalls unaufhaltsam älter werden, oder Zufallsbekanntschaften im Café.
Was verlief sich im Laufe der Zeit, was ging immer mit? So ist sie auf unbedingt lesenswerte Weise dem eigenen körperlichen Verfall auf der Spur, aber nicht wie ein Detektiv, sondern eher wie der Archivar vergangener Wünsche und Ängste.
Manches ist inzwischen einfach weg. Um nicht alles muss man trauern, manches machte das Leben bloß kompliziert: erotische Verstrickungen zum Beispiel oder der berufliche Erfolgsdruck. Im Alter wird nicht alles schwerer, manches wird auch leichter, man muss es nur so überzeugend wie Jutta Voigt formulieren können: »Als Subjekt der Begierde bin ich ausgeschieden, freiwillig. Als Objekt auch. Streift mich der Blick eines Mannes, halte ich ihn für einen Perversen, einen Verrückten oder Kriminellen.«
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