Lust auf Freiheit und Sozialismus
WEGE IN DIE SOZIALE EMANZIPATION
Kapitalismuskritische Bewegungen, vor allem »Occupy«, haben verabsäumt, sich einer theoretischen Analyse des Kapitalismus und den Wegen seiner Überwindung zu stellen und ebenso darauf verzichtet, sich sozial und politisch wirksam zu organisieren. Im Umfeld dieser Bewegungen, aber auch bis in die bürgerliche Publizistik hinein, geistert ein Wiederentdecken von Marx als Kapitalismusanalytiker und vor allem Krisentheoretiker. Stefan Kalmring freut sich, befürchtet jedoch, dass diese Wiederentdeckung - wie einst von der Studentenbewegung - vorübergehend sein wird, was nicht allein am Ausblenden seiner gesellschaftsverändernden Intentionen liegt.
Um das zu verhindern, ist das Marxsche Herangehen gründlich zu aktualisieren. Das verlangt kritische und selbstkritische Einsichten: »Das theoretische Verständnis der fundamentalen Umbauprozesse des Kapitalismus seit den 1970er Jahren sollte erstens nachhaltig verbessert werden, Theoriebildung und politische Praxis sollten zweitens wieder in ein stimmigeres Verhältnis zueinander gebracht werden und zu guter Letzt sind drittens die tiefen Verwerfungen und Enttäuschungen theoretisch, historisch und moralisch aufzuarbeiten, die die Geschichte der politischen Linken im 20. Jahrhundert aufweist. Sie müssen unter dem Blickwinkel ihrer Bedeutung für einen Ansatz im Anschluss an Marx durchleuchtet werden. Dies betrifft insbesondere die katastrophalen Entwicklungen des Weltkommunismus.«
Kalmring sucht sich dem in einem materialreichen, oft überbordenden Text zu stellen, wobei ihm besonders jene, wie er es nennt, heterodoxen (Neo-)Marxisten (also eher die des Westens) am Herzen liegen, die er aber ebenso kritisiert wie die an einem orthodoxen »Marxismus« gescheiterten »staatssozialistischen Entwicklungsdiktaturen« mit ihren Konzepten.
Hervorzuheben ist Kalmrings Bemühen, linke Bewegungen wie auch die mannigfachen Marxismen in ihrer Geschichtlichkeit zu analysieren. Sein »Blick auf die Sackgassen des Sozialismus des 20. Jahrhunderts unter der Perspektive konkreter geschichtlicher Ereignisketten« verschwimmt indes mitunter. Des Autors Eingeständnis, dies als Soziologe in Konfrontation mit den Theorien zu betreiben und nicht als Historiker, erklärt allerdings manches. Das ist aber die Crux der Auseinandersetzung mit allen gescheiterten Versuchen, linke Ideen von sozialer Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie zu verwirklichen - sei es als »Diktatur des Proletariats«, die zur Diktatur der Partei über das Proletariat verkam, sei es als sozialdemokratische Reformpolitik, sei es als anarchistische Bewegung von unten. Nie handelten sie im luftleeren Raum, sondern machten eigene Fehler - die ohne Wenn und Aber für den Untergang des Realsozialismus 1989/91 ausschlaggebend waren - in einem historischen und politischen Umfeld, in der Systemauseinandersetzung. Der äußere Gegner mischte freilich mit, griff an und zwang die handelnden Linken zu Anpassungen, die schließlich zum tödlichen Korsett wurden.
Marx war - das betont Kalmring - Politiker und Revolutionär. Dies prägt und fordert seine Theorie. Das traf aber genauso auf Lenin oder andere linke Theoretiker und Praktiker zu, die um die Macht kämpften, um sozialistische Ziele durchzusetzen, die sie dann doch oft ungewollt deformierten.
Berechtigt werden Erblasten aufgezeigt, die sich letztlich in der Frage nach Möglichkeiten individueller Freiheit, der zu verhindernden »Enteignung der Subalternen von links« in der neuen Ordnung ebenso zuspitzen wie in der Suche nach dem Charakter von Gesellschaft und Arbeit. Nicht zufällig diskutiert dies Kalmring am bedingungslosen Grundeinkommen - als Lackmustest für Realitätsnähe oder -ferne eines Gesellschaftswandels. Konsequenterweise trifft sich dies mit der etwas ahistorischen Kritik eines Dualismus von »Freiheit und Gleichheit«, der sich »tief in die Denkmuster der alten Linken eingegraben« habe. Für ihn ist dieser »insofern fatal, als dass er das Ziel selbstbestimmter Mündigkeit gegenüber dem Ziel sozialer Gleichheit relativiert. Politische Allianzen zwischen einem radikalen, ins libertäre gewendeten Liberalismus und des Sozialismus sind eine Möglichkeit, beide Momente in Einklang zu bringen.«
Ja, Marxsches Denken war einst und heute notwendigerweise ein politisches, das (was zweifellos schwieriger geworden ist) soziale Subjekte und politische Organisationen braucht. Man wusste und weiß um die Risiken der Vereinnahmung politischer und sozialer Gegenpositionen, auch wenn sie alle Kinder der Aufklärung sind. Selbst wenn wir heute wissen, wie brutal Linke scheitern können, aus der Pflicht werden sie sich nicht stehlen können, auch wenn sie noch so wenig mit der Macht zu tun haben wollen. Oder es bleibt eben alles, wie es ist.
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