Große Lust

»Graphic Novels« aus Neuseeland

  • Jan Tölva
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer heute in ein Buchgeschäft geht, wird mit ziemlicher Sicherheit auch eine Ecke mit Graphic Novels finden, doch das war nicht immer so. Auch wenn der Begriff »Graphic Novel« bereits in den späten 1970ern von Will Eisner geprägt wurde, etablierte sich diese Form des Comics doch erst in den letzten zehn Jahren wirklich.

Diese Entwicklung lässt sich zum einen damit erklären, dass das qualitative Niveau komplexerer Comic-Erzählungen in den letzten Jahren enorm gestiegen ist und somit schlicht bessere Waren zu vermarkten sind. Werke wie »Persepolis« von Marjane Satrapi oder »Blankets« von Craig Thomp-son hat es vor zwanzig Jahren schlicht nicht gegeben. Zum anderen lässt sich seit Längerem eine immer stärkere Verzahnung von Hoch- und Popkultur beobachten, die neben Charlotte Roche und Lady Gaga eben auch Graphic Novels in die Feuilletons gehoben hat - was zu Zeiten von »Asterix« oder »Lucky Luke« völlig undenkbar gewesen wäre.

Dieses Mehr an Aufmerksamkeit und Würdigung schlägt sich auch in den Verkaufszahlen nieder. Vor allem aber hat eine kleine Zahl von Einzelkämpfern und Verlagen viel Zeit und Energie investiert, den Begriff »Graphic Novel« im popkulturellen Diskurs zu verankern und damit neue Kundenschichten jenseits der klassischen Comic-Nerds zu erschließen.

Eine treibende Kraft dabei war zumindest auf dem deutschsprachigen Markt der Berliner Verlag Reprodukt. »Bei dem Wort ›Comic‹ denken die meisten Menschen erst einmal an Knollennasen oder biedere Reporter mit Hund. Was wir damals angefangen haben zu veröffentlichen, hatte damit aber wenig zu tun«, erinnert sich Sebastian Oehler von Reprodukt, »Die Reiseberichte von Guy Delisle oder die autobiografischen Geschichten von Mawil passten da einfach nicht rein, deshalb haben wir uns entschlossen, zunehmend den Begriff ›Graphic Novel‹ zu verwenden.«

Eine weitere wegweisende Entscheidung des Verlages war es, offensiv auf den Buchhandel zuzugehen und ihn davon zu überzeugen, dass Graphic Novels tatsächlich ernstzunehmende Literatur sein können. Dass das ein wirtschaftlich richtiger Schritt war, zeigt sich zum einen darin, dass der Markt bereits seit Längerem regelrecht boomt, zum anderen aber auch darin, dass ein Gutteil des Geschäfts nicht über klassische Comicläden, sondern über den traditionellen Buchhandel abgewickelt wird.

Doch auch an den Comicläden ist der Hype um Graphic Novels nicht spurlos vorübergegangen. »Das ist einfach ein Begriff, der unheimlichen Erfolg hat«, meint Torsten Alisch, Mitinhaber des Berliner Comicladens »Grober Unfug«. »Wir haben hier viele Kunden, die sich nach Graphic Novels erkundigen, aber nie auf die Idee kämen, nach Comics zu fragen.« Dass Graphic Novels auch im traditionellen Buchhandel geführt werden, sieht er positiv, weil dadurch viel mehr Menschen an das Medium Comic herangeführt werden.

Dass es sich durchaus lohnt, tiefer in die Welt der Comics einzudringen, davon handelt auch eines der Bücher, die Reprodukt jetzt zur Frankfurter Buchmesse (Halle 4.1, Stand C 120) präsentiert und das auch zum Messethema Neuseeland passt. In »Hicksville« von Dylan Horrocks kommt ein US-amerikanischer Comicjournalist, der für sein Buch über den erfolgreichen Comicautor Dick Burger recherchiert, in dessen Heimatort im Süden Neuseelands. Dort stellt er fest, dass fast jeder einen tiefen Groll gegen Burger zu hegen scheint, gleichzeitig aber über ein ungemeines Fachwissen über Comics verfügt.

Horrocks erzählt jedoch nicht nur die Geschichte des Journalisten, er verwebt geschickt verschiedene Handlungsstränge und lässt seine Charaktere immer wieder über die geschäftliche Seite der Comicwelt philosophieren. Dabei geht es um den in marktwirtschaftlichen Zusammenhängen allzu üblichen Gegensatz zwischen künstlerischem Wert eines Werks und dem Zwang, eine gut verkäufliche Ware produzieren zu müssen. Die Comicbranche wird beschrieben als etwas, das Kreativität abtötet und fast nur marktkonformen Kitsch hervorbringt.

Zu bedenken ist dabei jedoch, dass das englischsprachige Original von »Hicksville« bereits 1998, also vor dem Graphic-Novel-Boom, erschienen ist. Allein die Tatsache, dass dieses in der Comic-Szene verwurzelte und gleichzeitig kritische Werk heute weit über die Grenzen Neuseelands hinaus Verbreitung finden, und jetzt sogar auf Deutsch erscheinen konnte, spricht dafür, dass sich in der Branche seitdem tatsächlich einiges geändert hat.

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