Ausgebrannt

Die Frankfurter Buchmesse - ein begeisterter Rückblick

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 7 Min.

Ach, du warst auf der Buchmesse? Dann hast du ja Arnold Schwarzenegger gesehen! Und E.L. James! Und Peer Steinbrück!

Nein, habe ich nicht. Jeder schafft sich seine Höhepunkte selbst. Anders kann es nicht sein. Die Auswahl ist gigantisch. Riesig die vielen Hallen voller Bücher und Monitore, Mikrofone und Bühnen. Tausende Veranstaltungen, stets mindestens drei, die man nicht verpassen sollte, genau zur selben Zeit. Erstens: Man muss sich entscheiden. Zweitens: »Man«? Wer soll das sein, wenn nicht »Ich«.

Wenn ich jetzt also schreibe, dass das Verzweifeln an der Flut verwirrender, auch widersprüchlicher Ideen und Informationen charakteristisch für diese Messe war, ist dieser Eindruck ganz subjektiv. Oder nicht?

Juli Zeh spricht auf dem Blauen Sofa im menschenverstopften Durchgang zwischen zwei Hallen über ihren Roman »Nullzeit«. Eine der Hauptfiguren, Sven, hat Deutschland den Rücken gekehrt und ist Tauchlehrer auf einer fernen Insel geworden. Deutschland, das ist für ihn Kriegsgebiet, eine »Urteilsfront«. Der Zwang zum permanenten sprachlichen Richten ist Sven, dem Juristen, unerträglich geworden. Allein unter Wasser, wo die Worte verstummen, ist er noch fähig zur Interaktion und zur Leidenschaft. Sagt Juli Zeh und spricht von »prototypischen, sehr zeitgenössischen« Symptomen der Überforderung.

Immer nahe am Burnout, von Konzentrations- und Entscheidungsschwäche niedergeworfen, getrieben von der Sehnsucht nach Rückzug - fühlt so der Mensch unserer Zeit? Die 38-jährige Autorin, Juristin und junge Mutter, eine der politisch am vehementesten engagierte Schriftstellerin ihrer Generation, gesteht ein, dass sie das »Einfach Schluss!«-Bedürfnis nur zu gut kenne. Aber: »Ich verbiete mir, diesem Impuls nachzugeben.« Was sie dann sagt, ist erstaunlich für eine so argumentationsgewandte Frau wie Juli Zeh: Um urteils- und handlungsfähig zu bleiben, müssen wir aus dem Bauch heraus entscheiden. »Mit reinem Nachdenken kommt man nicht weiter. Das merkt man, wenn man viel nachdenkt.«

Zwei denkmächtige Journalisten, Frank Schirrmacher und Giovanni di Lorenzo, haben einen Gesprächsband (nur als E-Book) mit der Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckhardt veröffentlicht, Titel: »Tun oder lassen - Nachdenken über unsere unentschiedene Generation«. Und der auf dieser Messe omnipräsente Publizist und TV-Moderator Roger Willemsen stellt seinen neuen Titel »Momentum« vor, eine aus sehr persönlichen Erlebnissen geschöpfte »Anleitung, die entscheidenden Augenblicke unseres Lebens zu erkennen«. Der Weltreisende plädiert darin für den Mut zum Risiko, besondere Momente beim Kragen zu packen. Die Überforderung, sagen sie alle, darf uns um keinen Preis lähmen.

Clemens J. Setz schließlich, der mit seinem atemberaubenden Roman »Indigo« auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, hat eine ganz eigene, höchst literarische Methode gefunden, mit den schwindelerregenden Unschärfen der Realität umzugehen: »Phänomene, die mir rätselhaft sind, verwandle ich in etwas Anderes, um zu erkennen, was da gespielt wird.« In seinem Roman, angereichert mit Dokumenten, von denen man nie genau weiß, ob sie authentisch oder erfunden sind, erfahren wir vom Phänomen einer indigoblauen Aura bei gewissen Kindern, die »normale« Menschen, etwa Eltern, krank macht. Erwachsen geworden, verlieren manche dieser Kinder ihre schädliche Ausstrahlung. Man nennt sie dann »ausgebrannt«.

Claudia Langer, Autorin der Streitschrift »Generation Man müsste mal«, warnt vor einer ganz anderen Art des Ausbrennens, nämlich vor dem »Burnout unseres Planeten«. Klimawandel, Finanzkrise, Hungerkatastrophen in einer reichen Welt - jedem sei die bedrohliche Lage bewusst, aber kaum jemand schaffe es, sich aus der »Phlegma-Falle« zu befreien. Langer will die weit verbreitete Nachbarschaft von guten Vorsätzen (umweltbewusster leben, sich politisch stärker engagieren, mehr Zeit für die Kinder) und ihrer ausbleibenden Umsetzung aufmischen. »Einer muss anfangen« ist ihr Motto.

»Der Preis der Ungleichheit« heißt das neue Buch des US-amerikanischen Wirtschafts-Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz, der auf der Messe gemeinsam mit Peer Steinbrück aufgetreten sein soll. Ich erlebe ihn bei einem Gespräch ohne den SPD-Mann. Da spricht er vom Tellerwäscher-Millionär-Mythos und davon, wie weit dieser Mythos von realen Aufstiegschancen entfernt ist.

»Ungleichheit« ist ein Wort, das oft zu hören ist auf dieser Messe. Beim Briten Owen James zum Beispiel, der in seinem Buch »Prolls« die »Dämonisierung der Arbeiterklasse« als »ideologisches Fundament einer ungleichen Gesellschaft« bezeichnet. Ganz ähnlich spricht der deutsch-iranische Publizist Navid Kermani von einer »Ideologie der Ungleichheit«. Kermani stellt hier sein Buch »Vergesst Deutschland! Eine patriotische Rede« vor. Geschrieben hat er den Text anlässlich der Hamburger Lessing-Tage 2012, unmittelbar nachdem die NSU-Morde publik geworden waren. Wie Jones in Großbritannien, beobachtet Kermani in Deutschland eine grassierende »Abwertung von Migranten, Muslimen, auch Hartz-IV-Empfängern. Wie Jones macht Kermani die Medien mitverantwortlich für eine »polarisierende Wahrnehmung«, in der »Wir« von »den Anderen« getrennt erscheinen. Kermani nennt die »Bild«-Zeitung und Thilo Sarrazin, um sie zwar von einer »direkten Verantwortung« für die NSU-Morde freizusprechen, nicht aber von der Installation eines »diffusen Bedrohungsgefühls« in der Mitte der Gesellschaft.

Lessing und eigentlich alle großen deutschen Klassiker (»außer Kleist«), sagt Kermani, hätten es verstanden, ihre Liebe zur Nation mit spitzer Kritik an deutschen Zuständen zu verbinden. Als »extrem antipatriotische Krawallmacher und Nestbeschmutzer«, der gleichzeitig die deutsche Sprache und Kultur liebte, sei Lessing ein Vorbild für ihn. »Kritik am Gemeinwesen«, erklärt Kermani das Paradoxon in seinem Buchtitel, »ist ein patriotischer Akt«.

Und plötzlich sind wir wieder bei Juli Zeh. Gefragt, ob das Auswandern für sie (wie für ihre Romanfigur Sven) eine Option wäre, antwortete sie: »Ich will dieses Land nicht verlassen. Ich liebe und hasse es gleichermaßen.«

Um einen Fluch über das liebenswerte Neuseeland auszustoßen, musste man schon versehentlich in eines der großflächigen Wasserbecken getreten sein, die den diesjährigen Gastland-Pavillon prägten. Neuseeland: Grillenzirpen, Froschquaken, mystische Klänge und ein grauer Mond, der, wenn man das nächste Mal hinsieht, in kräftigem Violett strahlt. Wer zur rechten Zeit kommt, erlebt eine schwarze Gestalt, die sich langsam, erhaben (und barfuß) durch die Becken bewegt, liest, ruht, flüstert, brüllt, im plötzlich nur auf ihn niedergehenden Regen verharrt. Die Bühne, auf der Neuseeland sich und seine Literaten in Lesungen und Gesprächen auf bescheidene, freundliche und verschmitzte Weise präsentiert, ist hinter einem schwarzen Vorhang versteckt. Die sphärischen Performance- und Installationsgeräusche schirmt er nicht ab. So mischen sie rauschend mit in jeder Lesung, jedem Gespräch. Auf dem Hof zwischen den Hallen ist Maori-Kultur zu erleben: Tänze, Tätowierungen, traditionelles Holzschnitz-Handwerk. Und eines der überteuerten Messebistros bietet nationale Spezialitäten an, zum Beispiel Lachs-Kiwi-Tartar.

Der besinnliche Neuseeland-Pavillon war das Kontrastprogramm zum elektronikverliebten Marktplatz, als der sich die »Buch«-Messe seit einigen Jahren (auch) versteht. Ihr Gesicht verliert sie durch ihre multimedialen Auswüchse noch lange nicht. An vielen Stellen sprießen sie ihr auf Flat- und Touchscreens aus der papiernen Haut. Wie Akne. Was jung aussieht, leuchtet, sieht aber eben nicht immer schön aus. Das war auch an den kostümierten Jugendlichen zu beobachten, die sich am Publikums-Wochenende wieder über die Messe trollten. Ein hochgewachsener schwarzer Engel beispielsweise, mit lila Haaren, viel unbedeckter Haut und einer Flügelspannweite von fast zwei Metern. Wie dieses Wesen sich schwerelos durch die Tüten und Taschen tragenden Menschenknödel bewegte: bewunderungswürdig.

Jetzt ist die Messe zu Ende und dieser Text, in dem so vieles fehlt, auch. Das Urheberrecht etwa und der technologisch beflügelte Trend zum Selbstpublizieren. Die Lage des »stationären Buchhandels« und die Reaktion der Verlage auf den leisen, aber stetigen Aufwind des E-Books. Sascha Lobo und Rainald Goetz. Rolf Eden und Günter Netzer. Wie geht es denn nun weiter mit der Branche?

Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, welchen Satz ich von dieser Frankfurter Buchmesse lange in Erinnerung behalten werde. Es ist ein Satz von Clemens J. Setz, der, obwohl viele seiner mobilen Bekannten nach Wien oder Berlin gezogen sind, noch immer in seiner Heimatstadt Graz lebt: »Ich sehe immer dieselben Sachen«, sagt er sehr ruhig, »und sie werden immer interessanter.«

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