»Ich, ausgetauscht gegen mich«

Der Schriftsteller Günter Grass wird heute 85

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Eines seiner Bücher heißt »Mein Jahrhundert«. Der erste Satz: sofort ein Sog. Bekenntnis zu Schuld, Schande, Schönheitstrotz: »Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabeigewesen.« Ich, sagt dieser Autor, der gern von sich in dritter Person schreibt. In diesen hundert Kurzgeschichten über alle Jahre des 20. Jahrhunderts nimmt jedes Mal ein anderet Ich-Erzähler das Wort und ruft wichtige, beiläufige, hässliche, hochfahrende, niederschmetternde, tragische, komische Momente des Lebens auf. Das Faktenmaterial der Zeit trifft auf die Fabulierlust und -list des Schriftstellers. Wie der Deutsche war und wie das Deutsche ist.

So gelangt der Zopf eines 1900 geköpften Chinesen auf einen Straubinger Faschingsball, »zur allgemeinen Gaudi«. So finden sich in einem Berliner Trödelladen Ansichtskarten von Else Lasker-Schüler. Ein SS-Mann darf die brutale Ermordung Erich Mühsams kundtun. Und durch den traurig-hilflosen Bericht einer Barmbeker Mutter, kurz vor Hitlers Macht, schneidet sich die innerfamiliäre Front zwischen Rot und Braun. Auch kann es sich ereignen, dass Benn und Brecht, die einander nie trafen, just in beider Todesjahr ins gemeinsame Witzeln kommen. Und es kann geschehen, dass sich ein Brautpaar im Frankfurter Römer verläuft und statt beim Standesbeamten im Auschwitz-Prozess landet. Und ein Boulevardjournalist beichtet seinen Hass auf Brandt und dessen Kniefall bei den »Polaken«.

Grass verdeutlicht - in diesem Buch wie in all seinen Büchern - Übergänge, wo Gut und Böse, Rechts und Links, Gleichgültigkeit und Fanatismus sich mischen. Er schärft den Blick dafür, dass Historie zersplittert ist: Nur immer wieder im Detail ist zu erforschen, inwieweit Menschen Ausdruck von Bedingungen ihrer Zeit sind, inwiefern sie auf diese Weise Möglichkeiten von Leben entdecken, aber zugleich um Möglichkeiten von Leben betrogen werden. Grass kann den Menschen nicht trennen von sozialpolitischen Bewegungen. Freilich verweigert er sich einer Hoffnung auf den endgültigen Triumph der Vernunft. Auch sein Engel der Geschichte fliegt wie der von Walter Benjamin: »Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«

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Grass litt stets an Deutschland, ob dieses sich nun im Westen remilitarisierte oder im Osten Bauarbeiter mit sowjetischer Genehmigung niederknüppelte, ob es nun, Anfang dieses Jahrhunderts, Asylgesetzgebungen inhuman verschärfte (er verließ daraufhin die SPD) oder die DDR nachträglich zur Hölle erklärte. Er war stets radikal in seiner Liberalität (»ich weiß zu wenig vom Vietcong, um ihm den Sieg zu wünschen«), und wie kein anderer blieb er somit entschieden gleichzeitig Staatstragender wie Gesellschaftskritiker. Dafür haben ihn die Achtundsechziger erst gelobt, dann gehasst, und die ost- wie die westdeutsche Linke hat diesen Mann - einen demokratischen Sozialisten (als Definition für wahre Sozialdemokratie) - nie auf einen einzigen Gesinnungsnenner festlegen können. Von Lobbyisten und Treuhändern wurde er angegriffen, von Bellizisten und Pazifisten, vor allem immer wieder von jenen, die Freiheit sagen, aber Börsengewinne meinen. Reich-Ranicki durfte auf dem »Spiegel«-Titel das Buch »Ein weites Feld« im wahren Sinn des Wortes zerreißen. Das war der piefige Versuch des Kritikerwesens, über den Schöpfenden zu siegen; das sekundäre Talent wollte übers Primärtalent herrschen. Immer wollen Menschen richtender Gott sein - in einer Welt, die sie selber nicht schufen.

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Das Werk von Grass, der am 16. Oktober 1927 als Sohn eines Kolonialwarenhändlers in Danzig geboren wurde, ist kaschubisch, der Bürger Grass europäisch. Das Ostelbische gab seiner Literatur den erdigen, küchendampfenden, kartoffelfeurigen Geruch und den speziell vertrackten, so merkwürdig sich ausstülpenden Kleine-Leute-Ton; es wird im Werk eine Lebensart erzählt, die an der Wirrnis der Zeit und an deren reichem Angebot, unter allem zu leiden, ihr zähes listiges Aushalten trainiert. Ein Meister ist er im Zaubern von Atmosphäre, im Ausbreiten von kauziger Wunderlichkeit kleiner, behäbiger, listiger und knarziger Ohnmachtsmenschen. Gern geht die melodiöse Rede von Zauber und Raunen. Die gefühlte Zugehörigkeit zum Pommerschen erhob Grass seit jeher zu einem kritischen Fremden innerhalb westlicher Selbstzufriedenheiten; er war den Ursprungssehnsüchten von schwachen, in ihrer Schwachheit auch bösen, durch Geschichte bedrohten Existenzen stets näher als denen, die fürs Höhere andere bevorzugt niederdrücken. Sein Engagement für Brandts Ostpolitik, seine Solidarität mit Polens »Solidarnosc«, seine offene Kritik an der »sozialistischen« Unfreiheit in der DDR hatte da ihre Ausgangspunkte - aber ebenso sein Einspruch gegen bundesdeutsche Arroganzen bei der Wiederherstellung Deutschlands aus zweistaatlicher Unnatur.

Seine »Blechtrommel« wird zum erfolgreichsten deutschen Roman, und ein wenig begleitet Grass bis heute die Aura des grandiosen Ein-Roman-Schreiber, er ist ein früher Weltmeister seiner selbst, dem (trotz »Die Rättin«, »Hundejahre«, »Der Butt«, »Unkenrufe«) kein zweiter vergleichbarer Gipfel wuchs. Man sagt, Gabriel García Márquez (»Hundert Jahre Einsamkeit«) habe in etwa das gleiche Schicksal. Die »Blechtrommel«-Verfilmung von Volker Schlöndorff bekommt den Oscar. Aber den Nobelpreis, den erhält Heinrich Böll. Grass hat ihn dann erst 27 Jahre später. Der letzte Nobelpreis des 20. Jahrhunderts.

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Seine Souveränität, die sich auf Leistung gründet, ist begleitet von einem unübersehbaren Misstrauen, das überall Verunglimpfungen dieser Leistung lauern sieht. Grass hat ja auch Recht in dieser Vorsicht, die ihn panzert: Inzwischen scheint es bei Bilanzen über ihn weniger fahrlässig, ein paar Romane unaufgezählt, als jenes Detail unerwähnt zu lassen, das ihn siebzehnjährig und kurzzeitig als SS-Mitglied brandmarkt. Es ist alles stets sehr deutsch rund um diesen Weltliteraten des Landes. Kritisiert wurde Grass wegen seines sehr späten SS-Meldebekenntnisses »sicherlich von Schreibern«, so Christa Wolf, »das will ich doch voraussetzen, die selbst immer frank und frei mit den Peinlichkeiten ihres Lebens umgehen«.

»Beim Häuten der Zwiebel«. Eines seiner besten Bücher. Nicht das, nicht vom, sondern: Beim Häuten der Zwiebel. Das Pronomen der Vorläufigkeit. Die letzte Haut ist nicht offengelegt, es gibt nur vorletzte Wahrheiten, auch wenn dieser Dichter, wie es in einem töricht mahnverrannten Gedicht über Israel heißt, inzwischen »mit letzter Tinte« schreibt.

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Wenn schon, noch einmal, das lange Schweigen über die SS-Zugehörigkeit ein Thema ist, dann doch nur im Ruf: Bruder Grass! So was kennt das Leben doch auch in anderer Konstellation: Wie viel Lüge es einschließt, wenn wir öffentlich »Ich« sagen. Wie wir noch in gewandelter Gesellschaft, in geänderten politischen Zuständen »verloren bleiben in einer Zeit, die nie enden wird« (Grass im Gedichtband »Dummer August«). Wie man das, was man denkt, durch das erstickt, was man sagt. Martin Walser sagt's so: »Man bremst sich andauernd im Vorgehen gegen sich selbst. Man stellt das Verfahren ein, weil man Angst hat, es könnte zu weit führen.« Warum um ihn herum plötzlich so große Lust, sich im Kritisieren auch möglichst rasch von dem zu distanzieren, was der zu Rügende an Courage, an zeitkritischer Verbindlichkeit, an Bürgermut so vielen anderen vorgelebt und voraus hatte? Plötzlich dieser Reinheitsgrad der Sittenluft. Schmutzig.

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Eine Mehrfachbegabung. Er erzählt, ist bildender Künstler, dichtet, wurde bei Steidl in Göttingen zum barocken Perfektionisten der Selbstvermarktung. Er weiß Wonne zu verströmen, wenn die Rede ist von Getier, Strand, Tabak, Skat und Kochkunst. Freilich: Seine Selbstfeier hat nichts Geschmeidiges, sie wirkt knorrig, bärbeißig; und sehr seltsam verwoben sind bei diesem Manne Weltläufigkeit und düstergrimmige Abschottung. 1967 schrieb er: »Mein großes Ja bildet Sätze mit kleinem Nein: Dieses Haus hat zwei Ausgänge; ich benutze den dritten.«


Günter Grass: Dreizehn einfache Sätze

Im Mai grünt alles, sogar das Schwarze.
Mit dem Spitzwegerich wächst die Feigheit nach.
Das Schweigen der Freunde übertönt den Lärm der Feinde.
Den Jasagern ist zu allem ein Amen geläufig.
Jemand weiß Witze vom laufenden Band.
Sogar der Widerstand zählt zum Geschäft.
Gegen Fluglärm hilft kein Glockengeläut.
Im Winter geborene Gerüchte werden im Sommer läufig.
Im Prinzip sind wir alle Verbraucher.
Das Leben kann zur Gewohnheit werden.
Eis schmilzt, nicht aber der Haß.
Der Sonne könnte das Lachen vergehen.
Letzte Hoffnung täuscht uns der Klatschmohn vor.

Aus dem soeben erschienenen Band »Eintagsfliegen. Gelegentliche Gedichte«, Steidl Verlag Göttingen, 108 S., mit Zeichnungen, Leinen, 28 Euro

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