»Warum hat die Bevölkerung weggeschaut?«
Hamburger Imame besuchen die KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Eine bleierne Stille umgibt das Gelände. Schon am Eingang zur Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme im Südosten Hamburgs befällt die meisten Besucher ein Gefühl der Beklemmung und Trostlosigkeit.
Den zwölf Imamen, die von Vertretern der SCHURA, des Rates der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg, begleitet werden, geht es freilich nicht anders. Einige schauen sich beinahe etwas ängstlich wirkend um. Gleich nach der Begrüßung durch Gedenkstättenmitarbeiterin Ulrike Jensen, die die Gruppe betreuen wird, kommen viele Fragen: »Warum wurden Menschen hier inhaftiert?«, »Wegen ihrer Hautfarbe?« und »Waren auch Muslime darunter«? Viele der Imame leben noch nicht lange in Deutschland, kommen aus afrikanischen Staaten, dem Libanon oder der Türkei.
Ulrike Jensen erklärt ihnen den NS-Staat, in dem es »Herrenmenschen« und »Untermenschen« gab, antisemitische, rassistische, politische Verfolgung und die perfide Logik der »Vernichtung durch Arbeit«, der zwischen 1938 und 1945 in Neuengamme sowie seinen Außenlagern mindestens 42 900 Menschen zum Opfer fielen. »Muslime waren auch unter den Häftlingen, aber nicht weil sie Muslime waren«, erläutert Jensen. Wegen ihrer Religion seien Menschen nur verfolgt worden, wenn ihr Glaube in Opposition zur NS-Ideologie gestanden habe. Das galt beispielsweise für die Zeugen Jehovas, weil sie Pazifisten waren.
Während der zweieinhalbstündigen Führung werden den Imamen der Lageralltag, das mörderische System aus Kontrolle, Vereinzelung, Schikane und Gewalt erklärt, Dokumente des Terrors, die Stätten der Zwangsarbeit gezeigt. Darunter eine Tongrube, wo die Arbeitsbedingungen so furchtbar waren, dass die Überlebenszeit im Sommer maximal drei bis vier Monate, im Winter gar nur zwei bis drei Wochen betrug.
»›Muselmänner‹ war ein rassistischer Begriff, den die SS-Wachen für die abgemagerten und sterbenden Häftlinge verwendet haben, nicht etwa für Muslime«, räumt Jensen mit einem Missverständnis auf. »›Musalman‹ ist das persische Wort für Muslim«, ergänzt einer der Imame. Die französischen Kolonialherren hätten es aus dem Nahen Osten nach Europa gebracht.
Das gleiche Entsetzen
»Ich habe das Gefühl, dass uns einige Grausamkeiten vorenthalten werden«, sagt ein anderer Imam skeptisch. Der Studienzentrumsleiter der Gedenkstätte, Oliver Wrochem, versichert, dass das nicht der Fall ist: Unterkünfte, Wachtürme »und viele Dinge, die nicht zu sehen sind, wurden nach dem Krieg zerstört. Man kann so etwas Schreckliches nicht einfach wieder herstellen. Überfüllte Baracken, Krankheit, Tod, der unerträgliche Gestank lassen sich nicht mehr vergegenwärtigen.« Die Grausamkeit in den KZ habe vor allem in dem »System der totalen Reduktion des Menschen auf ein Objekt von Vernutzung« bestanden, erklärt SCHURA-Vorstandsmitglied Norbert Müller seinen Glaubensbrüdern eine Besonderheit des deutschen Völkermordes.
Aussagen wie »Es ist unfassbar, was Menschen Menschen antun können« oder »Das war eine menschliche Katastrophe« sind immer wieder aus der Besuchergruppe zu hören. »Aber warum hat die deutsche Bevölkerung weggeschaut - sie hätte doch eingreifen und den Opfern helfen müssen?!« Die Imame reagieren mit dem gleichen Entsetzen und Unverständnis gegenüber dem Versagen oder gar der Komplizenschaft der Mehrheit der Deutschen im NS-Staat wie säkular sozialisierte Besucher, die über eine unbeschädigte Empathiefähigkeit verfügen und nicht von rechtsradikalen Weltbildern verblendet sind.
Was denken fromme Muslime, die aus allen Teilen der Welt nach Deutschland gekommen sind, wenn sie direkt mit der Geschichte des NS-Terrors und des Holocaust konfrontiert werden? Welchen Zugang haben sie zur Täter-Vergangenheit der Residenzgesellschaft? »Wir alle sind hier, weil wir uns mit der deutschen Geschichte auseinandersetzen wollen«, erklärt der SCHURA-Vorsitzende Mustafa Yoldas. Aber auch um etwas klarzustellen, betont er: Muslimen werde unterstellt, Antisemiten zu sein, weil viele von ihnen sich über die Besatzungspolitik in Palästina empören. Die Kritik der SCHURA »richtet sich gegen die israelische Regierung - nicht gegen Juden«. Diese Unterscheidung sei von großer Bedeutung.
Im anschließenden Gespräch wird deutlich: Differenzierungen sind auch gefragt, wenn es darum geht, die Vorbildung von Muslimen über den Holocaust zu beurteilen. Die Aussagen der Imame bestätigen die These des Historikers Gilbert Achcar, »›die Muslime‹ existieren, ebenso wie ›die Juden‹, als politisch und intellektuell uniforme Gruppe nur in der Fantasie, die ihren Ursprung in dem verzerrenden Prisma entweder des ordinären Rassismus oder polemischen Fanatismus« hat.
Unterschiedliche Vorbildung
»Ich habe erst hier in Deutschland von den Nazi-Verbrechen gehört. Während meiner Schulzeit in der Türkei wurde uns kein Wort darüber erzählt«, erklärt Saadettin Sögüt, Imam der Islamischen Gemeinde Hamburg-Steilshoop. Ganz anders der Imam der Centrum Moschee Ercan Yüksekkaya, der schon in der Grundschule, die er hier besucht hat, damit konfrontiert wurde. »Wenn ich in Filmen die Leichen der ermordeten Juden sehe, kann ich nur weinen.«
Bevor er mit zwölf Jahren die Türkei verließ, wusste er bereits von der größten Menschheitskatastrophe, erzählt Mehmet Karaoglu, Bildungsbeauftragter des Bündnisses der Islamischen Gemeinden. Nicht zuletzt wegen der vielen Antisemitismusvorwürfe gegen Muslime habe er sich »vielleicht viel mehr Gedanken« über den Holocaust und die Konsequenzen gemacht »als so mancher Deutsche«.
»Es ist die erste Aufgabe jedes Muslims, die Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen.« Dieses Gebot gelte universell, »auch, wenn der Unterdrücker ein Muslim ist«, ergänzt Imam Yüksekkaya. Einige Muslime würden es aber falsch praktizieren, wenn die Unterdrücker israelische Juden seien. »Dann kommen Verschwörungstheorien, und es heißt, ›die Juden‹«, meint Karaoglu, der derartige Ressentiments in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen zu bekämpfen versucht.
Viele muslimische Migranten hätten auch Angst, dass »unter den Deutschen noch immer ein Hitler schlummert«, gesteht Karaoglu. »Wenn man Politiker wie Sarrazin reden hört, dann riecht das schon ein bisschen nach damals.«
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