Russlands Protestführer in Nöten
An diesem Wochenende soll ein Koordinationsrat der Opposition gewählt werden
Die Zahl der Teilnehmer an den Meetings der russischen Protestbewegung ist stark rückläufig. Von einem »Marsch der Millionen« kann keine Rede sein. Auch bei den Regional- und Kommunalwahlen vor einer Woche konnten die Gegner von Präsident Wladimir Putin trotz Liberalisierung der Wahlgesetzgebung keinen signifikanten Erfolg einfahren. Dennoch schießen Behörden und staatsnahe Medien aus allen Rohren Sperrfeuer gegen die für das Wochenende geplanten Wahlen zum Koordinationsrat, mit dem sich die höchst unterschiedlichen Protestgruppen arbeitsfähige Strukturen geben wollen, um den Quantensprung zur außerparlamentarischen Opposition zu ermöglichen.
Sergei Udalzow, Führer der Linken Front und einer der bekanntesten Protestorganisatoren, wurde jedoch am Mittwoch vom Ermittlungskomitee bei der Generalstaatsanwaltschaft fast zwölf Stunden lang vernommen. Zuvor fanden bei ihm und in den Wohnungen weiterer Frontleute Hausdurchsuchungen statt. Nach der Vernehmung wurde Udalzow zwar freigelassen, er darf Russland jedoch bis auf Weiteres nicht verlassen. Sein Mitkämpfer Konstantin Lebedjew sitzt dagegen weiter in Untersuchungshaft, ein dritter Verdächtiger, Leonid Raswoshajew, wurde noch nicht aufgespürt.
Allen drei Aktivisten wird Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten vorgeworfen. Im Sommer sollen sie sich mit Giwi Targamadse getroffen haben, dem Vorsitzenden des Sicherheits- und Verteidigungsausschusses im georgischen Parlament. Bei dem Gespräch in der belarussischen Hauptstadt Minsk sei es um die Organisation von gewaltsamen Massenunruhen in Moskau, Wladiwostok, Kaliningrad und anderen russischen Städten gegangen, heißt es im Haftbefehl gegen Lebedjew, der das Treffen organisiert haben soll. In Großbritannien lebende russische Geschäftsleute hätten zur Unterstützung der Aufstandspläne angeblich 20 Millionen Rubel zur Verfügung gestellt.
Die Vorwürfe stützen sich bisher nur auf unscharfe Bilder einer Dokumentation mit dem Titel »Anatomie des Protestes«, die der Fernsehsender NTW - im Besitz des Staatsunternehmens Gasprom - am 5. Oktober ausgestrahlt hat. Der Sender gilt nicht als besonders seriös, Abgeordnete der Regierungspartei »Einiges Russland« sahen dennoch die nationale Sicherheit bedroht und verlangten Konsequenzen. Diese, so drohte Wladimir Markin, der Sprecher des Ermittlungskomitees, könnten auf lebenslange Haft hinauslaufen und sollten all jenen, die Massenunruhen und Terroranschläge planen und die Professionalität russischer Geheimdienste unterschätzen, eine Warnung sein.
Udalzow bestreitet die Vorwürfe, er habe sich nie mit Targamadse getroffen. Wohl habe er mit »potenziellen Sponsoren« seiner politischen Arbeit gesprochen, erklärte er der Zeitung »Kommersant«, doch um Ungesetzliches sei es dabei nie gegangen.
Mitkämpfer vermuten eine gezielte Diskreditierung der Opposition. Ilja Ponomarjow, der für die Partei »Gerechtes Russland« in der Duma sitzt, zog sogar Parallelen zu Stalins Repressionen in den 30er Jahren. Auch Ponomarjow selbst wollen die Einheitsrussen inzwischen als möglichen Komplizen Udalzows vernehmen lassen. Überraschend erklärte der Abgeordnete am Donnerstagabend seinen Rückzug von der Kandidatur für den Koordinationsrat der Opposition, der am Wochenende gewählt werden soll. Die Opposition, so erklärte Ponomarjow, habe es nicht vermocht, konkrete Reformvorschläge vorzulegen und ihre Fähigkeit zur Führung des Landes zu beweisen. Wenigstens damit hat er recht.
Und das ist nicht der einzige Schlag, den die Organisatoren der Wahl hinnehmen mussten. Inzwischen sehen sie sich auch der Unterschlagung bezichtigt. Wer für einen der 45 Sitze im Koordinationsrat kandidiert, musste dafür eine Verwaltungsgebühr von 10 000 Rubel (etwa 250 Euro) berappen. Unter den Bewerbern, so die Organisatoren, seien jedoch zahlreiche Provokateure gewesen, die das Geld eingezahlt, ihre Kandidatur aber inzwischen zurückgezogen haben und nun Rückerstattung fordern. Es soll dabei um insgesamt 600 000 Rubel gehen. Die seien eingefroren und könnten erst nach Eingang von Angaben zur Bankverbindung zurücküberwiesen werden, heißt es vonseiten der Veranstalter. Die Betroffenen aber behaupten, sie hätten keine Bankkonten und seien betrogen worden.
Diese und andere Attacken haben die Konflikte zwischen den rivalisierenden Führern der Protestbewegung weiter vertieft. Liberale wie Ilja Jaschin sprachen sich bereits für eine Verschiebung der Koordinationsrats-Wahlen aus. Weil sich die Medien derzeit vor allem an Udalzow abarbeiten, lautet seine Begründung, könnten die Linken dabei auf Prozente kommen, die weit über ihrem tatsächlichen Anteil an der Protestbewegung liegen.
Unabhängige Beobachter schütteln den Kopf und kritisieren auch das Prozedere der Abstimmung selbst. Die nämlich soll am Sonnabend und Sonntag per Internet, in Großstädten aber auch in realen Wahllokalen stattfinden. Um höchstmögliche Fairness und Transparenz bemüht, verlangt das Organisationskomitee von Kandidaten und Wählern nicht nur die Registrierung, sondern auch eine sehr umständliche Verifizierung.
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