Die Aufarbeitungsweltmeister

Zynismus oder hoffnungsvolle Geste? Geteilte Gefühle zum Denkmal für ermordete Sinti und Roma

  • Marlene Göring
  • Lesedauer: 5 Min.
Zwei Generationen, zwei Perspektiven: Das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma macht nicht nur Freude, sondern erntet auch Kritik.

Hugo Höllenreiner wartet an seinem Esstisch. Er schaut der Besucherin interessiert entgegen, die gekommen ist, um mit ihm über sein Leben zu reden. Wieder einmal. Der Sinto Höllenreiner ist Holocaustüberlebender, seine Geschichte auch seine Aufgabe.

Mehrmals im Monat spricht Hugo Höllenreiner über sein Leid im Dritten Reich. An Schulen, bei Veranstaltungen; quer durch die Bundesrepublik reist er dafür. Auch in Berlin wird er sein, wenn das Denkmal der Bundesregierung für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma eröffnet wird. »Es ist eine so große, große Freude!«, sagt der 79-Jährige. Seine Freundin, mit der er in der Maisonette-Wohnung in Ingolstadt wohnt, nickt heftig dazu. Die Gegend ist ruhig und grün, fast ländlich. Hier hat sich Höllenreiner sein Zuhause eingerichtet. Genießen kann er es nicht immer. Die Erinnerungen kommen nachts, auch tagsüber in unerwarteten Momenten. Fassungslose Trauer, nervöse Anspannung und schlichter Hass spiegeln sich abwechselnd auf seinem Gesicht, wenn er vom KZ erzählt. »Ein Verzeihen gibt es nicht«, sagt Höllenreiner bis heute. 36 Menschen allein in der Familie seines Vaters haben das NS-Regime nicht überlebt. Wie durch ein Wunder aber er, seine fünf Geschwister und beide Eltern.

Die Angst ist immer da

Menschen wie ihm ist das Denkmal gewidmet, das heute in Berlin eingeweiht wird. Es ist das erste, zu dem sich eine deutsche Regierung durchringen konnte. Für Höllenreiner ein Zeichen dafür, dass Sinti und Roma mehr als je zuvor als Teil der Gesellschaft akzeptiert werden. »Nach dem Krieg, das waren schlimme Zeiten«, erzählt Höllenreiner, »wir waren ja immer noch ›die Zigeuner‹.« Die Familie kehrt in die bayerische Heimat zurück, rappelt sich wieder auf die Beine, beginnt Handel. Nach und nach geht es besser. Während er aus seinem Leben nach dem BRD-Wirtschaftswunder erzählt, zeigt der Patriarch auf die Bilder im Regal, die meistens ihn selbst zeigen: mit der Schauspielerin Linda Evans in Kalifornien oder mit einem gut anderthalb Meter langen Thunfisch beim Angelausflug in Puerto Rico. Irgendwie glückliche Zeiten. Aber die Vergangenheit ist ein blinder Fleck, der sich immer wieder gewaltsam den Weg in sein Bewusstsein bahnt. »Wir haben nie in der Familie darüber gesprochen«, sagt er. Öffentlich sowieso nicht. »Die Angst steckte in mir drin! Dass ich auf Ablehnung stoße. Dass es sich wiederholt.«

Sein Schweigen bricht der Überlebende erst 1993. Eine ganze Menschenmenge ist es, vor der er zum ersten Mal bei einer Veranstaltung in München von seinem Trauma spricht. Danach kommen immer mehr Lehrer und Politiker auf ihn zu; sie wollen, dass Höllenreiner als Zeitzeuge berichtet. Es wird zu seiner Lebensaufgabe, seinem späten Aufbegehren. »Heute würde ich das alles nie mehr zulassen. Ich würd' kämpfen bis zum letzten Blutstropfen!« Die nächsten Generationen liegen dem Sinto am meisten am Herzen. Wenn junge Menschen nach einem Vortrag den Kontakt suchen, wird der äußerlich so robuste und kräftige Mann ganz sanft. »Die Schüler nehmen mich in den Arm, sagen liebe Worte«, erzählt er. »Das tut so gut.« Als ob er sie schützen will, redet Höllenreiner aber bis heute nicht mit den eigenen Kindern und Enkeln über das KZ.

Weg von der Opferrolle

Emran Elmazi gehört auch zu dieser nächsten Generation. Der 26-Jährige sitzt in einem winzigen Büro, schreibt gleichzeitig E-Mails auf zwei Laptops, SMS auf dem Smartphone und erzählt dabei von seiner Arbeit als ehrenamtlicher Vorsitzender des Amaro Drom e.V. (Romanes für »Unser Weg«). Der Verein ist Jugendverband und Selbstorganisation von Roma in Deutschland, deren kulturelle Identität oft keine einfache ist. Der junge Mann mit den dunklen Haaren und ersten Lachfältchen um die Augen ist selbst 1996 aus Mazedonien nach Deutschland gekommen. Dass er Rom ist, hat er lange verborgen, vor Ämtern, Lehrern und Kommilitonen. Heute wissen es alle, er geht selbst entspannt damit um. »Ich wache nicht auf und denke, ja, ich bin Rom. Das macht niemand, auch kein Deutscher«, sagt er. Zum Engagement ist er gekommen »wie die Jungfrau zum Kinde«, es hat sich so ergeben. Zur Einweihung des Denkmals will Elmazi gehen, er sieht es aber kritisch.

Schon vor 20 Jahren beschloss der Bundestag den Bau. Damals war das ein Meilenstein, wurden doch damit erstmals Sinti und Roma als aus rassistischen Motiven verfolgte Minderheit anerkannt. Geld-, Macht- und Gestaltungsfragen hemmten das Vorankommen aber noch lange Zeit. Nun endlich eröffnet das so hart umkämpfte, lang ersehnte Mahnmal. »Spät. Zu spät«, sagt Elmazi. Die Überlebenden hätten kaum mehr etwas davon. Franz Rosenbach zum Beispiel, der sich jahrelang für das Denkmal eingesetzt habe, sei vor kurzem verstorben. »Ich glaube, das Denkmal ist für die ältere Generation wichtiger als für uns«, sagt der junge Muslim. »Es ist für die gedacht, die verfolgt worden sind. Wir wollen von der Opferrolle loskommen.«

Durch die Besucher in der Beratungsstelle des Amaro Drom erfahren Elmazi und seine Kollegen jeden Tag, dass der Antiziganismus einen festen Platz in der Mehrheitsgesellschaft hat. »Die muss das selbst für sich klären«, sagt der Jurastudent selbstbewusst. »Mit unserer Unterstützung natürlich, aber das Problem haben nicht wir - das haben die anderen.« Von ihrem Schreibtisch aus, der dem von Elmazi direkt gegenübersteht, schaltet sich Projektleiterin Julia Hartung ein: »Die Strukturen des Antiziganismus, die in die industrielle Menschenvernichtung geführt haben, sind in keinster Weise aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden«, formuliert sie noch schärfer als er. »Dabei schmücken sich die Deutschen ja mittlerweile schon als Geschichtsaufarbeitungs-Weltmeister.« Die Aufgabe von Amaro Drom und anderen kritischen Verbänden sei es, darauf zu achten, dass dies nicht gelinge. Die zierliche blonde Frau spricht aus, was bei den Eröffnungsreden der wichtigen Personen sicher nicht zu hören sein wird: »Es ist zynisch, einerseits ein großes, teures Mahnmal aufzustellen und andererseits die - teilweise direkten - Nachkommen der Überlebenden abzuschieben.«

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