Eine Fehde von Oligarchenclans
Viele Ukrainer sind von den einen enttäuscht, von den anderen nicht überzeugt
Mein Freund Mischa hat aufgehört, Zeitungen zu lesen. Im Fernsehen meidet er Politik und sucht leichtere Kost. Und das vor den schicksalhaften Parlamentswahlen, vor der entscheidenden Schlacht zwischen der regierenden Partei der Regionen und der Opposition. Ich kenne ihn noch ganz anders: Täglich studierte er einen Stapel Zeitungen, checkte das Internet und las politische Analysen in Zeitschriften mit dem Stift in der Hand.
»Wenn ich etwas über die Wahlen gelesen habe, bekomme ich das brennende Bedürfnis, mir schnellstens die Hände zu waschen«, sagt er jetzt zur Erklärung.
Wir sitzen bei ihm zu Hause, schauen auf das herbstliche Kiew, tauschen Belanglosigkeiten aus, kein Wort über die politische Wetterlage, bis ich doch nachfrage.
»Für wen soll ich stimmen?«, fragt Mischa verzweifelt. Er ist im Osten des Landes geboren und hat in Donezk gearbeitet, bis er vor einigen Jahren nach Kiew kam - ein typischer Wähler des Lagers von Präsident Viktor Janukowitsch. Aber dessen Partei der Regionen hat bei ihm jedes Vertrauen verloren. Bleibt also die »Vereinigte Opposition« mit Julia Timoschenko im Gefängnis an der Spitze. Auch nicht. Der Hype um die Frau mit dem Zopf, ihre Verfolgung und der Prozess haben ihn der Ikone der »Revolution in Orange« eher entfremdet. »Was hat sie Gutes getan, als sie an der Macht war?«, fragt Mischa rhetorisch.
Vielleicht Vitali Klitschko und seine Partei UDAR (deutsch: der Schlag). Mischa macht mit der Hand eine Bewegung, als ob er eine Fliege verscheuchen wollte - die Partei hat zu schwammiges Profil, es ist nicht einmal gewiss, mit wem sie im Parlament paktieren würde.
Mischa ist kein Einzelfall. Unter Ukrainern herrscht in vielen Gegenden große Ratlosigkeit. Die sicher geglaubten Wähler einer politischen Kraft ändern ihre Präferenzen radikal. In Kramatorsk, einer Metropole des Maschinenbaus im Donezbecken, erzählen mir junge Leute, dass sie von Janukowitsch und seiner Politik sehr enttäuscht sind. In Donezk selbst gehen Menschen gegen die Regierenden auf die Straße - noch vor Kurzem unvorstellbar: Die »Donezker« waren seit Jahren diejenigen, die für Janukowitsch und die Partei der Regionen mit unglaublichen 90 Prozent gestimmt hatten. Jetzt bröckelt die Bastion.
Und umgekehrt: In den westlichen Gegenden, die Janukowitsch immer sehr kritisch begegneten, schwindet anscheinend die Unterstützung für die »Orangen«. Der gemeinsame Nenner vieler Gespräche: Das ist kein politischer Kampf, das ist die Grabenfehde verschiedener Oligarchenclans um die restlichen Reichtümer des Landes.
Zur Verwirrung der Wähler tragen auch die Schmutzkampagnen »aller gegen alle« bei. Zur Modewaffe wurden »schwarze« Flugblätter und Zeitungen. Um den Gegner zu diffamieren, lässt man in dessen Namen Propagandamaterial drucken und in die Briefkästen werfen. Im Gebietszentrum Riwne mit nur 250 000 Einwohnern wurden 100 000 Flugblätter verteilt, die äußerlich der Zeitung der Vereinigung »Swoboda« (Freiheit) ähnelten - mit einem Loblied auf den norwegischen Massenmörder Breivik und der Aufforderung, einige Politiker zu kastrieren, andere zu erschießen. Im Impressum stimmten weder Herausgeber noch Druckerei.
In Odessa wurde eine Schmähschrift verbreitet, die Klitschkos Partei in die nazistische Ecke pferchte. Ähnliche Schläge gegen UDAR gab es auf der Krim und im Gebiet Poltawa. Nicht nur Printmedien und Internet, auch Funk und Fernsehen sind an der Verbreitung der »Antiwerbung« beteiligt. Eine juristische Verfolgung ist langwierig und hilft im aktuellen Kampf überhaupt nicht.
An der Tagesordnung sind auch Bestechung der Wähler - mit Geld, Lebensmitteln oder Medikamenten - oder Bestechungsvorwürfe an den Gegner; ebenso Rufmord an einzelnen Kandidaten durch fingierte Kommentare in sozialen Medien und Spams an hunderttausende Mail-Adressen, Hacker-Angriffe und Veröffentlichungen von Interna, Zerstörung der Informationsstände der Konkurrenz … Fest rechnet man auch mit Wahlmanipulationen im großen Stil.
»Solche dreckigen Wahlen haben wir noch nie erlebt«, sagt ein Lokaljournalist in Charkiw, und dass heißt etwas: 2004 wurden die Wahlergebnisse in der Ukraine sogar mit einem zwischengeschalteten Computer verfälscht - mit Wissen des Chefs der Zentralen Wahlkommission!
Plötzlich, als sei er aus seiner Lethargie erwacht, schaut mich Mischa an und sagt: »Vielleicht sollen wir für Swoboda stimmen?« Das hatte ich nicht von ihm erwartet: »Swoboda« ist eine nationalistische Partei, die mit ihren radikalen Ansichten die Gesellschaft eher spaltet als eint.
Auf die Wahlergebnisse sollte man sehr gespannt sein.
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