Werke sind kristallisiertes Leben
Noch einmal Strittmatter und der Krieg: Antwort auf eine Replik
Wie seltsam, dass es in einer Replik auf einen Text zur Cottbusser Theaterfassung des »Laden«, in dem ich über das schwierige Verhältnis von Leben und Werk bei Erwin Strittmatter schreibe, erklärtermaßen nicht um Strittmatter geht (»nd« vom 27.10.). Warum eigentlich nicht? Soll der einzelne, in Widersprüchen befangene Mensch kein Thema geistiger Auseinandersetzung sein, statt dessen das Thema Mensch und Werk nur »an sich« zum Thema erhoben werden? Vor der Militanz derartiger Abstraktionen ist mir angst.
Sarah Liebigt unterstellt, ich käme in meiner Rezension zu einer »totalitären Schlussfolgerung«. Ich gestehe, dass ich immer noch dünnhäutig reagiere, wenn man mir derart bündig mitteilt, wie ich etwas hätte richtig formulieren müssen. So wie es dasteht, sei es falsch. Wer befindet darüber? Ich hätte keine Schwierigkeiten mit einem Widerspruch zu meinen Überlegungen, die sich schließlich immer auch als vorläufige Formulierungsversuche zu erkennen geben und keinen dogmatischen Anspruch erheben, wenn die Kollegin in ihrem Text nicht den Eindruck erweckte, durch sie spräche eine objektive Wahrheit. Doch was, wenn ich bestreite, dass das zum Maßstab erhobene »autonome Kunstwerk« überhaupt existiert, ebenso, dass es eine absolute Autonomie des Einzelnen gibt? Was ich schreibe, widerspricht einer Theorie. Na und, es wäre nicht die erste Theorie, die auf Ablehnung trifft.
Der Streit, ob das Leben eines Autors eine Rolle für das Verständnis seiner Werke spielt, ist nicht neu. Für die Ablehnung eines für läppisch befundenen »Biographismus« gibt es viele Beispiele. Hugo von Hofmannsthal etwa riet Rilkes Tochter Ruth, nach dem Tod des Vaters alle Briefe und Aufzeichnungen zu verbrennen, damit sie die Werkwirkung nicht verwässern. Zum Glück hielt sie sich nicht daran. Mich interessiert es sehr, wie jemand gelebt hat und unter welchen Umständen er etwas schrieb. Das erklärt nicht den Text, aber bietet oft unerwartete Zugänge. Denn warum schreibt ein Autor überhaupt? Antworten finden sich, wenn überhaupt, in seiner Biografie. Darum halte ich es für pure Ignoranz, wenn bestimmte akademische Schulen jede Beschäftigung mit der Biografie des Autors strikt ablehnen. Das Leben ist nun einmal nicht theoretischer Natur, diesen Widerspruch sollte man lesend bedenken.
Im Aufeinanderprall des Einzelnen und seiner ihm und seinen Hervorbringungen oft feindlichen Zeit entsteht jedoch etwas, das für andere, die diese Erfahrung teilen, wichtig werden kann. Ein Werk ist geboren, nicht selten aus der Not des Nicht-anders-sagen-Könnens heraus. Ist das Werk eines Autors die Kristallisationsform seines Verhältnisses zu sich und seiner Zeit, sprich für sein Leben? Ich denke ja. Darum fordert es immer wieder neue Erklärungsanläufe - so auch bei Erwin Strittmatter.
Nicht allein ein Werk wächst und verändert sich, auch der, der es hervorbringt und das nicht zuletzt durch die Art und Weise, wie er sein Werk schafft (oder dieses ihn). Der Zusammenhang ist unaufkündbar. Und schließlich: Das Ziel jedes Werks ist doch wieder das Leben und nicht nur das eigene! Mancher befreit sich schreibend von einer Schuld, mancher projiziert auch die ungelebten Möglichkeiten seines Lebens in dieses Werk. Das Deutungs-Feld ist weit und fruchtbar, solange man nur diesen Zusammenhang von Leben und Werk nicht zerstört. Das Leben selbst ist der Stoff, der nach Ausdruck verlangt - und zum Künstler wird derjenige, der darum ringt, oft auch daran scheitert.
Wohin aber führt die Trennung von Leben und Werk? Zu einem seines lebendigen Grundes beraubten Werk und einem durch das Werk allein gelassenen Leben. Wer über das Leben eines Künstlers unter Absehung seines Werks urteilt, der theoretisiert auf der einen Seite und moralisiert auf der anderen. Was aber fehlt, ist die Möglichkeit, eine zutiefst eigene Erfahrung mit dem Werk zu machen. Nur, wer bereit sei, etwas in einen Text hineinzulesen, der werde auch etwas aus ihm herauslesen, sagt Walter Benjamin. Was bedeutet: Ohne die eigene subjektive Position einem Text gegenüber zu bejahen, verschließt dieser seiner Reichtum in sich.
Das hier Gesagte ist sicherlich nicht im Sinne der »Konstanzer Schule«, erst recht nicht der »radikalen«, zu der sich Sarah Liebigt bekennt. Nun, auch ich habe noch bei dem Kopf dieser Schule, Hans Robert Jauß, Anfang der 90er Jahre ein Seminar zur Deutung der »Ninive«-Geschichte der Bibel besucht. Den angestrengten Versuch von Jauß, den Interpreten im Text gleichsam verschwinden zu lassen, diesen Text also durch sich selbst sprechen zu lassen, fand ich, eben weil ihm das subjektiv-vitale Element fehlte, allerdings recht langweilig. Anderen, so weiß ich, ging es anders.
Doch so sehr Jauß sich auch darum bemühte, das Leben, auch sein eigenes, wegzulassen - es wollte sich dann doch nicht gänzlich aus der Kunst, einen Text zu lesen, heraushalten lassen. Kurz vor Jauß' Tod wurde 1995 bekannt, was er bis dahin verschwiegen hatte: Der hochgeehrte Begründer der »Rezeptionsästhetik« war im Krieg Angehöriger der 33. Waffen-Grenadier-Division der SS Charlemagne gewesen, zudem Träger des »Deutschen Kreuzes in Gold«. Entwertet dieser biografische Fakt nun sein Werk? Nein, aber er verändert die Beleuchtung, in der wir es sehen. Und da sind wir dann wieder bei Strittmatter und dem, was das 20. Jahrhundert mit Biografien machte. Und zwar mit großer Gewalt, bis zur physischen Zerstörung. Wer überlebte, war dennoch zeitlebens gezeichnet.
Statt der Formulierung, der Krieg mache Soldaten zu Verbrechern, plädiert Liebigt für: »Im Krieg werden Soldaten zu Verbrechern.« Das jedoch verkennt die blinde Gewalt des Krieges, das anonyme Sterben, das er hervortreibt. Es klingt unangemessen zivil. Das mythologische Untier Krieg war (und ist) eine Menschenvernichtungsmaschine, die den Einzelnen zu ihrem Funktionsteil degradiert. Im Krieg »wird« man nichts - kein Held und auch kein Märtyrer, man bleibt Vehikel des großen Mordens. Der erklärte Versuch Esau Matts, alias Erwin Strittmatters, Mensch zu bleiben, ist gewiss ein hoher Anspruch, aber nicht einlösbar - wie er dann selbst erfahren muss.
Das Gewissen ließ sich dennoch nicht bei all jenen zum Schweigen bringen, die auf Vernichtung des Feindes programmiert waren. Die eigentlichen Helden waren dann diejenigen, die desertierten oder sich gefangen nehmen ließen, oder wie die Offiziere des 20. Juli 1944 versuchten, den Krieg mittels eines Attentats auf Hitler zu beenden.
Zumeist aber wurde es zur Einsicht im Nachhinein, etwa bei den Gefangenen, die sich im »Nationalkomitee freies Deutschland« organisierten: Dieser Krieg hatte sie zu Verbrechern gemacht. Im Gegensatz zu denen, die danach immer noch meinten, sie hätten (gar ehrenvoll) nur ihre Pflicht getan, war dies ein entscheidender Schritt zu einem Neuanfang. Ein Schritt, den auch Strittmatter ging.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.