Die Moslembrüder und das Spiel der Macht

  • Pedram Shahyar
  • Lesedauer: 5 Min.

Die politische Sphäre einer Gesellschaft nach einer Revolution erfassen zu wollen, ist ein aussichtloses Unterfangen. Politische Kräfteverhältnisse sind ziemlich durcheinander und die Mächtigkeit verschiedener Blöcke und Koalitionen kurzlebig.

Doch eines stand in Ägypten nie zur Disposition: Die Moslembrüder sind die mit Abstand stärkste politische Kraft und stellen mit Mohammad Morsi den ersten freigewählten Präsidenten. Mit einer Geschichte von über 80 Jahren stellen die Moslembrüder die älteste politische Bewegung in Ägypten.

Unter Mubarak waren sie teilintegriert. Die extrem reichen Moslembrüder unterhalten eine eigene Ökonomie inerhalb der Ökonomie: Sie binden die Menschen durch soziales Engament und eine privat betriebene Infrastruktur an sich. Hierdurch und mit Hilfe einer extrem hierarchischen Organisation erreichen die Moslembrüder 20-25% der ägyptischen Gesellschaft. Ihr Verhältnis zur Revolution war von Anfang an ambivalent. Nach der Absetzung Mubaraks balancierten sie zwischen der regierenden SCAF und der Tahrir-Bewegung. Dadurch präsentierten sie sich als eine reformistische Kraft, die moderierend in die Gesellschaft wirkt und bei den anstehenden Wirren der Transformation die „Ägyptische Identität“ und die Nationale Sicherheit garantieren kann. Dies entsprach einer breiten Sehnsucht nach Normalität in der Bevölkerung, die durch die ökonomische Krise immer mehr erschöpft war.

Vor drei Monaten gelang dem Präsidenten Morsi der völlig überraschende Coup, die Armeeführung zu spalten und die formale politische Kontrolle über die Regierung für sich zu gewinnen. Darin liegt eine besondere Stärke der Brüder: Integrieren und Spalten. Viele der jüngeren Generäle waren mit dem Versuch eines pakistanischen Modells ihrer greisen Chefs unzufrieden, die Armee direkt über die Politik zu stellen. Sie suchten wieder die „Stellung im Schatten“, von wo aus sie sich um Landesverteidigung und ihren immensen, korrupten Wirtschaftsbetrieb kümmern konnte, ohne in die öffentlichen Kritik zu geraten. Also einigte man sich auf einen „sicheren Exit“.

Die Salafisten bilden die rechte soziale Opposition und waren bisher die politische Kraft Nummer zwei hinter den Moslembrüdern. Ihre Basis sind die streng religiösen ländlichen Armen. Sie sind ebenfalls eine Art starke ethnische Gruppe, die aber kein stabiles politisches Organ hat bilden können. Ihre wichtigste Partei „Al Nour“, bei den Parlamentswahlen noch bei über 20%, geriet in eine Führungskrise, ist tief gespalten und aus dem Spiel.

Aus dem progressiven Lager gewannen die Brüder den bekannten liberalen Aiman Nour für ihre Liste für die Parlamentswahlen und spalteten dadurch seine Partei. Auch die Karam-Partei des linken Nasseristen Hamdeen Sabbahi war auf ihrer Liste. Aber hier ging die Rechnung nicht auf. Sabbahi wurde zum Star der Präsidentschaftswahlen und wird, wie es zur Zeit aussieht, in einem Block mit Baradai die konservativ-liberale Wafd-Partei vom dritten Platz verdrängen.

So gesehen haben die Brüder im Spiel um die Macht wirklich vieles richtig gemacht. Sie haben das Spiel lange Zeit aus einer sicheren Stellung langsam gespielt. Als ihre Gegner zusammen geschwächt waren, fingen sie an schnell zu spielen und die Macht an sich zu reißen. Doch ob man bei diesem Spiel überhaupt "outs" besitzt, wie man im Poker sagt, also überhaupt richtig gewinnen kann, ist zweifelhaft. Die Menschen haben hier eine Revolution durchgeführt und erwarten eine Verbesserung ihrer Lage, aber die Probleme sind gravierend, der Staatsapparat ist marode, und niemand scheint einen wirklich kohärenten Plan zu haben.

Die jungen Aktivisten erzählen vom Popularitätsverlust der Brüder, von der unglaublichen Wut, die sich täglich aufstaut, immer neuen Streiks. Die soziale Lage ist in vielen Orten schlimmer als vor der Revolution. Und dann haben die Moslembrüder beim Schnellspielen viel zu viel versprochen, z.B. vollkommen illusorische 100-Tage Programme, unter anderem die Verbesserung der Verkehrsprobleme in Kairo, für deren Durchführung selbst beim besten Willen und dem Einsatz von sehr vielen Mitteln Jahre gebraucht würden.

„Es kocht überall“ sagt May, eine linke Aktivistin aus den Basiskomittees. In der Revolution entlud sich der ganze soziale Frust gegen einen klaren Gegner, damals angeführt von der progressiven urbanen Jugend. Doch dieses Mal? „Vielleicht wird es auch einfach nur blinde Wut.“ Was ihr starke Sorgen macht, ist die neue Qualität der Kriminalität und Gewalt in den Gemeinden.

Man wird die soziale Lage nicht im Konsens lösen können. Die Brüder haben bisher kein ernsthaftes Sozialprogramm vorgelegt, nichts was die großen Geschäftsleute um Gamal Mubarak erschrecken würde. Stattdessen deutet sich eine Kontinuität der neoliberalen Wirtschaftspolitik an. Kredite von über vier Milliarden Dollar werden gerade mit der IWF ausgehandelt, Entwicklungsprogramme mit der EZB ausgearbeitet.

Den Alarmismus der jungen Aktivisten teilt Ahmad Solfeyl-Islam allerdings nicht. Er ist ein alter Kommunist, der Chef des Hesham-Mubarrak-Centers, eine Art „Rote-Hilfe“ in Kairo, und zum Thema Menschenrechte beratend für die Regierung Morsi tätig. Er zeigt mir das Interview mit Hesham Genina in der Tageszeitung Watan. Morsi berief diesen kritischen Richter zum Chef einer „präsidialen Behörde zur Bekämpfung der Korruption“. Genina sprach in einem Interview in dieser Woche zum ersten Mal scharf gegen die Korruption und erwähnte dabei auch die Armee. „Diese Wahl und dieses Interview sind Anzeichen für den Versuch eines kontrollierten Konflikts von Morsi mit den alten Eliten“. Neue soziale Explosionen werden kommen, schiebt er nach, „aber wenn Morsi gegen Korruption vorgeht, dann kann er Zeit gewinnen. Ein, zwei vielleicht sogar fünf Jahre“.

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