Das Großmutter-Rätsel
Forscher finden neuen Beleg für umstrittene Hypothese
Bei den meisten Tierarten sterben die Weibchen bereits kurz nach dem Verlust ihrer reproduktiven Fähigkeiten. Nicht so beim Menschen. Hier währt die unfruchtbare Lebensspanne der Frau im Regelfall Jahrzehnte, so dass aus Müttern oftmals Großmütter und Kinder zugleich Enkel werden.
Auf den ersten Blick scheint dieses Phänomen der Darwinschen Theorie zu widersprechen, wonach die Evolution primär den Fortpflanzungserfolg der Lebewesen belohnt. Allerdings kann dies auch auf indirekte Weise geschehen, indem etwa ein Lebewesen, ohne sich selbst fortzupflanzen, seinen nächsten Verwandten hilft, ihren reproduktiven Erfolg zu steigern. Ausgehend davon wurde vor Jahren die sogenannte Großmutter-Hypothese entwickelt, die sich kurz so formulieren lässt: Da Menschenkinder eine relativ lange und intensive Zuwendung benötigen, bis sie halbwegs selbstständig sind, war es für eine junge Mutter in rauer Vorzeit vorteilhaft, wenn sie bei der Aufzucht ihres Nachwuchses die Hilfe ihrer eigenen Mutter in Anspruch nahm. Auf diese Weise konnten junge Frauen in kürzeren Abständen weitere Kinder bekommen, ohne den bereits geborenen zu schaden. Außerdem wurde die, wie man annimmt, genetisch bedingte Langlebigkeit der Großmütter an die Enkel weitervererbt, die dadurch ebenfalls ein relativ hohes Alter erreichten.
Ob das alles wirklich so war, lässt sich heute natürlich nicht mehr feststellen. Es gibt jedoch die Möglichkeit, das vermutete Geschehen mit Hilfe einer Computersimulation nachzubilden. Das hat jetzt ein Forscherteam um die Anthropologin Kristen Hawkes von der University of Utah getan. Und zwar ausgehend von heute lebenden Schimpansenweibchen, die etwa mit 13 Jahren erwachsen werden, ein Alter von 30 bis 40 Jahren erreichen und kurz nach der Menopause sterben. Ein solcher Lebenszyklus sei vermutlich auch für unsere frühen Vorfahren typisch gewesen, meint Hawkes, die mit ihren Kollegen untersucht hat, ob und wie der Effekt der großmütterlichen Fürsorge diesen Zyklus verändert. Das hierzu entwickelte Computermodell war so angelegt, dass eine Großmutter nur ein Kind versorgte, das mindestens zwei Jahre alt war. Außerdem erreichte lediglich ein Prozent aller Frauen überhaupt das Großmutteralter. Doch bereits ein solch geringer Effekt großmütterlicher Fürsorge genüge, berichten die Forscher in den »Proceedings B« der Royal Society (DOI: 10.1098/rspb.2012.1751), um innerhalb von 24 000 bis 60 000 Jahren das durchschnittliche Alter der simulierten frühmenschlichen Geschöpfe von 25 auf 49 Jahren ansteigen zu lassen, also auf ein Alter, das auch reale Jäger und Sammler erreichen.
Hawkes ist überzeugt, dass die in ihrem Modell erfassten sozialen Veränderungen ausreichen, um die lange postreproduktive Lebensspanne der Frau zu erklären: »Die großmütterliche Fürsorge hat uns letztlich zu dem gemacht, was wir heute sind.«
Das sehen nicht alle Forscher so. Zwar könnte die großmütterliche Fürsorge tatsächlich dazu beigetragen haben, dass unsere Vorfahren im Schnitt älter wurden. Der weitere Alterszuwachs sei aber großenteils kulturell bedingt, meint Oskar Burger vom Rostocker Max-Planck-Institut für demografische Forschung. Denn den größten Sprung in Sachen Langlebigkeit habe die Menschheit in den letzten vier Generationen gemacht, vor allem dank besserer Ernährung und ärztlicher Versorgung. »Das ließ die Entwicklung der Lebenserwartung in nur 100 Jahren stärker steigen als während der Evolution vom Affen zum Homo sapiens.«
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