Wenn die Turbine dem Wind die Kraft raubt

Es gibt mehr Windenergie als wir brauchen, doch wie viel, darüber streiten Wissenschaftler

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 4 Min.

Welche Kraft Wind haben kann, erfuhren gerade die Menschen in der Karibik und an der Ostküste der USA, wo der Hurrikan »Sandy« Schäden in Milliardenhöhe anrichtete. Allein die Bewegungsenergie (kinetische Energie) solcher tropischer Wirbelstürme kann mehrere Milliarden Megajoule erreichen, was eine Leistung von mehreren Billionen Watt (Terawatt=TW) voraussetzt. Und so ist es kein Wunder, dass die Windkraft derzeit eine der wichtigsten erneuerbaren Energiequellen ist. »Erneuerbar« heißt allerdings nicht »grenzenlos«. Denn nicht alle Winde lassen sich einfach so in nutzbare Energie für uns Menschen umwandeln. Orkanen wie »Sandy« beispielsweise sind Windkraftanlagen gar nicht gewachsen. Die Betreiber solcher Anlagen im Einzugsgebiet von solchen schweren Stürmen können froh sein, wenn ihre - abgeschalteten - Turbinen den Hurrikan halbwegs intakt überstanden haben. Doch derartige technische Grenzen sind nicht die einzigen bei der Nutzung des Windes.

Wenn man das gesamte System der Erde betrachtet, kann man es physikalisch als eine gigantische Wärmekraftmaschine sehen, die ihre Energie aus drei Quellen bezieht: Aus dem radioaktiven Zerfall und der bereits bestehenden Hitze im Erdinnern, den Gravitationskräften von Mond und Sonne sowie von der Strahlung der Sonne. Ein Modell des Physikers und Klimatologen Axel Kleidon vom Jenaer Max-Planck-Institut für Biogeochemie schätzt den Beitrag des Erdinnern auf eine Leistung von maximal 50 TW, den der Gravitation auf 5 TW und den der Sonnenstrahlung auf 175 000 TW. Der größte Teil davon treibt natürliche Prozesse an: die Bewegung der Kontinentalplatten, Erdbeben, die Gezeiten und den Wellengang der Meere, den Wasserkreislauf, die Photosynthese der Mikroorganismen und Pflanzen. Der Mensch kann aus allen diesen Prozessen Energie für sich abzweigen und tut dies seit je. Beschränkte sich diese Energienutzung anfangs auf Nahrungsaufnahme und das Verbrennen von Biomasse, so kam später auch die Nutzung des Windes (Segelschiffe, Windmühlen) und der Wasserkraft (Mühlen) dazu. Seit dem 18. Jahrhundert wird zudem zunehmend die über Jahrmillionen in Energieträgern wie Kohle, Erdöl und Erdgas gespeicherte Energie fossiler Biomasse genutzt. Heute nehmen wir auf diese Weise weltweit nach Angaben der Internationalen Energieagentur eine Leistung von 17 TW in Anspruch. Liefe alles so weiter wie bisher, bräuchten wir nach Schätzungen des Ölkonzerns BP 2030 bereits 22 TW. Das scheint wenig im Vergleich zu dem, was die Sonne in das System Erde einspeist.

Kleidon hat genauer aufgeschlüsselt, wo die Sonnenenergie hingeht. Der größte Teil (116 000 TW) erwärmt danach durch Absorption die Erdatmosphäre und treibt damit sowohl die Luftzirkulation als auch den Wasserkreislauf von der Verdunstung über Wolkenbildung und Niederschläge bis zum Rücklauf über die Flüsse an. 215 TW werden von Algen und Pflanzen durch Photosynthese in Biomasse umgewandelt, der beachtliche Rest erreicht als wärmendes Sonnenlicht die Erdoberfläche. Als erneuerbare Energiequellen nutzbar wären in bescheidenem Umfang die Gezeiten, Teile der in die Atmosphäre abgegebenen Sonnenenergie (Wind, Wellengang, Wasserkraft) und die direkte Sonneneinstrahlung (Photovoltaik und Solarthermie). Den größten Posten bei der Nutzung erneuerbarer Quellen stellen derzeit noch Wasserkraft und Windkraft dar. Während über die begrenzte Ausbaufähigkeit der Wasserkraft wegen der damit verbundenen massiven Eingriffe in Ökosysteme und die Konkurrenz zum Wasserbedarf der Landwirtschaft noch einigermaßen Einigkeit in der Wissenschaft besteht, gibt es seit mehreren Jahren einen relativ heftigen Streit unter Forschern über das Potenzial der Windkraft, der sich aber merkwürdigerweise bislang überwiegend in englischsprachigen Medien widerspiegelte.

Der Technikwissenschaftler Mark Z. Jacobson von der Stanford University in Kalifornien (USA) setzt das globale Windkraftpotenzial mit 1700 TW an, das sich nach seinen Berechnungen durch ungeeignete Standorte auf real 40 bis 85 TW reduziert. Mit seiner Schätzung des Windkraftpotenzials geht Jacobson weit über das hinaus, was die Jenaer Max-Planck-Forschungsgruppe aus Windmodellen und thermodynamischen Berechnungen ermittelt hatte. Kleidon sieht denn auch in den optimistischen Schätzungen einen methodischen Fehler: Jacobson und andere hätten nicht berücksichtigt, dass die Windturbinen selbst die Windfelder verändern. Zwar meint er auf eine Frage von »nd«, es sei unwahrscheinlich, dass etwa der Ausbau von Windkraft in Europa den Einfluss des Golfstroms auf das hiesige Klima abschwächen werde, aber Kleidon erwartet, dass sich durch den Ausbau die Ausbeute der einzelnen Windparks so stark verringern könnte, dass sie bei zu großer Dichte unwirtschaftlich würden.

Anders als sein US-Kollege, der eine solche Abschwächung nur für den unmittelbaren Windschatten der Turbinen einräumt, geht Kleidon davon aus, dass es durch die zusätzlichen Turbulenzen hinter den Windrädern auch weiträumige Auswirkungen gibt.

Kleidon erwartet bei zu starkem Windkraftausbau auch nachteilige Umweltwirkungen, da es für Wasserkreisläufe und die Atmung der Wälder vermutlich nicht egal wäre, wie stark der Wind über Land ist. In einem Punkt sind sich Kleidon und Jacobson aber einig: Das weitaus größte Potenzial für die Energieversorgung der menschlichen Gesellschaft hat die Solarenergie, insbesondere, wenn sie aus Wüsten und von Dächern kommt.

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