Ein Moment ist viel oder: Als ob der Regen stiefelte
Peter Handkes eindringlicher »Versuch über den Stillen Ort«
Der Stille Ort, das ist tatsächlich: das »stille Örtchen«. Peter Handkes »nun fast schon lebenslanges Umkreisen und Einkreisen des Stillen Ortes und der stillen Orte« ist Buch geworden. Dessen Ausgangspunkt: ein Roman von A. J. Cronin, darin der Kinderheld auf der Toilette Zuflucht sucht vor der Erwachsenwelt. Der Ab-Ort als schöne Chance zur besänftigenden »Nächstenferne«, wo der Junge »nichts tut, als der Stille dort zu lauschen«. Und die Sterne blickten herab - was dem Roman den Titel gab: »The Stars Look Down.«
Die Toilette beim Großvater in Kärnten, im slowenischen Dorf. Die Toilette im Schulinternat, wo das Getön der Mitzöglinge endlich »nicht mehr als Gegell und Gebrüll ankam« - ein Asylort wie der Beichtstuhl. Oder das schulische Krankenzimmer: Lob der »Aus- und Alleinzeit«. Handke ist am Millstädter See oder in einer Tempelgartentoilette in Japan, er erinnert sich an viele Stille Orte, und aus diesem vielleicht kurios zu nennenden Anlass des Buches erwuchs ein wunderbarer Text über »Augenblicke von Ver- und Geborgenheit« inmitten blökender Welt.
Es ist dies der vierte »Versuch« des Dichters, er schrieb bereits Versuche über die Müdigkeit, die Jukebox, den geglückten Tag. Um-Schreibungen, Um-Kreisungen, beobachtend, erzählend - essayistisch möchte man gar nicht erst sagen, das nähme Leben aus diesen Büchern, Atem, die große anmutige Um-Sichtsfreude. Wieder diese Armut an Zwischenfällen als Reichtum des Erschauten. Als »Äuger« bezeichnet sich Handke: Wo es scheinbar um nichts geht, liegt doch alles vor Augen. Dieses Nichts, das immer nur ein Fast-Nichts ist, kann ein Werkzeugschuppen sein, »ein über Nacht leerstehender Bus, ein wenn auch halb eingestürzter unterirdischer Bunker aus werweißwelchem Krieg«. Rückzugsgebiete, sagt Handke, und schon ein Blick zu Boden kann das sein, »hinein in die Straßenbahnschienen«. Naturbild und Menschenspur in wundersamem Beieinander. Die wahren Schatzsuchergeschichten.
Es gibt keinen Dichter, der mit solchen Exerzitien der Anschauung, mit solcherart Sehnsucht nach dem Ereigniszittern des »bloßen Anblicks« in den Tag und in die Nacht, ins Licht und in die Schatten tritt. Was er mit Beben schaut, »ein Moment ist viel!«, das ist inmitten der Mauern, der Verschleierungen, der so vielen Wände und Absperrungen des Daseins eine Feier der Luftdurchlässigkeit. Der Stille Ort und die stillen Orte als »Heimkehr- oder Einkehr- oder Abbiegestätten« im überall »geisttötenden Gerede«.
Das Einfache? Beleidigungswort. Im Gegensatz zu: Einfalt. Ja, in der Literatur dieses Märchenbruders geschieht - Einfalt. Das ist etwas aus der Zeit Gestoßenes. Einfalt ist Grundfläche, kaum mehr auffindbar in heutiger Kultur, die zwar allem den Schleier entreißt und dann doch nur immer auf Oberfläche stößt. Einfalt ist Versöhnung mit Ursprüngen. Es ist Befreiung. Ist »der Blick über die Schulter ins Leere«. Wie es Handke von Ben übernommen hat, dem Helden aus Wolfes »Schau heimwärts, Engel«, der »sooft er Gerede, Streit, Unsinn, Krieg usw. der Familie oder sonstwessen wieder einmal über hat, den Kopf über die Schulter zurück in einen leeren Winkel des Hauses oder sonstwohin wendet und zu seinem ›Engel‹ dort sagt: ›Nun hör dir das an!‹«
Friedhöfe. Kirchen. Toiletten. Stille Orte. Ja: Bedürfnisanstalten. Hier macht das Bedürfnis nach einem ungebrochenen »Hiesigkeitsgefühl« Anstalten, sich zu befriedigen. Sich befriedigen zu lassen vom Geist der Unverwundbarkeit, inmitten doch des Verwitterns der Dinge, der Stunden. Ein Verwittern, gegen das die Welt hamsterrädrig ihr wieselndes »Weltbedeutungsspiel« setzt, über das der Dichter nur lächeln kann.
Anmut geht von diesem Text aus, Anmut als Ausdruck von Würde. Anmut als Aufruhr gegen die Fesseln des Althergebrachten. Asozialität also, Beseeltsein davon, den Geheimnissen des inneren, unbewussten Lebens näher zu kommen. Handke ist nicht mutig, sondern weit mutiger: Er ist furchtsam. Das Schreibziel (Wortwerdung als Weltschöpfung!) ist denn doch zu hochfein, als dass es sich je ganz fassen ließe. Das macht jene Unsicherheit und Unruhe aus, die auch diesem »Versuch« eingeschrieben ist. Meistens ist ja erst dann, wenn eine Sache aufhört, ein Ton da, der in uns nachklingt. Hier ist der Ton schon die Sache selbst. In ihm kann man sich aufgehoben fühlen und an so etwas wie Bewahrung glauben. Als sei die Welt schon vollständig erzählt, man muss nur immer warten, bis das Unerforschliche die Augen aufschlägt. Bewahrungsgefühl. Das ist angesichts jener Deutlichkeit, mit der rundum Vernichtung und Vernutzung protzen, doch etwas sehr Wärmendes.
Wer im Beton sitzt, von der Stadt verschlungen, der möge die letzten zehn Seiten dieses Büchleins lesen. Handke schreibt über den Dezember, in dem er diesen Text schrieb, in einer »ziemlich menschenleeren Gegend in Frankreich«. Geht durch die Nässe, von früh bis spät bilden einzig Wolken den Horizont, er singt ein Lied auf die Gummstiefel, es ist, als ob selbst »der Regen stiefelte«. Wie er so grandios innig und leichthin Landschaft beschreibt, und Tiere, das birgt eine Chance: Immer, wenn man gerade wieder mal alles durch die schmutzige Brille der Gewohnheit sieht, könnte man plötzlich einer Stimmung gewahr sein, könnte auf einen Anruf aufmerksam werden, den man vielleicht noch nicht ganz begreift, dem man aber sofort folgt, indem man die Gleichgültigkeit für ein paar Atemzüge überwindet - eine Freude vielleicht um einen Gran vermehrt fühlend, einen Schmerz um eine Schwingung heftiger empfindend.
Solcherart sind die Wirkungen von Handke-Wellen. Der zum Schluss den wahren Grund seiner Stillort-Obsession offenbart. Es ist gar nicht so sehr die Stille an sich, nein, sie muss eingebettet sein zwischen Abschied (von der Welt) und neuerlichem Willkommen (in der Welt). Es treibt den Dichter dieser immer wieder Notdurft werdende, also notwendige Übergang zur Stille - bei dem ihm dann Sprache zurückkehrt. Zurückkehrt wie ein Staunen, es »nimmt mich entgegen«. Und derart gestärkt dann wieder hinaus!
So zürnte sich vor Jahren, im Theaterstück »Untertagblues«, der U-Bahnfahrgast durch die Stationen der Welt, tobend gegen die arge, gehasste Mitmenschenschaft - um am Ende flehend zu ihr zurückkehren zu wollen. Bloß weg - um dann wieder heimzukehren. Der Hass erzählt von - Sehnsucht nach Liebe. Die Einsamkeit ist die Schwester der - Weltumarmung.
Peter Handke: Versuch über den Stillen Ort. Suhrkamp Verlag Berlin. 110 S., geb., Leinen, 17,95 Euro
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