Was ist Antagonismus?
Rachmaninow und Strawinsky bei den Berliner Philharmonikern
»Antagonismus 1912« heißt noch lange nicht »Antagonismus 2012«. Die Zeit heilt, nivelliert, integriert, glättet, übertüncht, verschraubt Glanz und Rost, reimt nach Heine »Teetisch« auf »ästhetisch«. Andererseits spitzt der Fortgang der Zeit weiter zu, um der Wahrheit Willen oder auch der Mode gehorchend, dem Zeitgeist verfallen - je nach Denkrichtung und Bewusstseinslage. Was vor 100 Jahren womöglich diametral entgegenstand, mag heute kaum mehr der Erwähnung wert sein.
Was ist Antagonismus? In jedem Fall eine krasse Beziehung, extrem widersprüchlich, grundgestört. Antagonismen scheinen a priori unüberbrückbar, nicht auflösbar. Im heutigen Kulturbetrieb sind solche Gegensätze schnell bei der Hand. Sie sind gut verkäuflich. Dinge ins Extrem zu treiben, tut heute jede »public station«. Einerlei, was hinter den Dingen steckt.
Auch Konzerthäuser üben sich darin. Mit »Antagonisten« kündigte die Berliner Philharmonie eins ihrer jüngsten Konzerte an, auf dem Plan Stücke von Rachmaninow und Strawinsky, ließ diese Überschrift aber im Programmheft wieder fallen. Tatsächlich stimmt »Antagonisten« nicht. Rachmaninow und Strawinsky mochten sich persönlich nicht. Ihre Musik, entstanden um das Jahr 1912, verhält sich wie die von Mahler und Schönberg um diese Zeit, eingeschlossen die freie Atonalität von Letzterem. Also alles andre als extrem gegensätzlich. Spielt Adornos »Philosophie der neuen Musik« Schönberg, Vertreter des Authentischen, Wahren, Modernen, gegen den »Reaktionär« Strawinsky aus, so ist die Schrift darum nicht weniger lesenswert.
Die Philharmoniker unter Simon Rattle boten immerhin zwei seltener gespielte Werke: Rachmaninows symphonisches Poem »Die Glocken« (Text Konstantin Balmont nach Edgar Allan Poe) und Strawinskys Kantate »Der Sternenkönig« auf ein Gedicht desselben Balmont für sechsstimmigen Männerchor und Orchester. Beide Aufführungen kamen in russischer Sprache, ein Vorzug. Daran schloss sich fast obligatorisch Strawinskys vor 100 Jahren komponierte Orchestermusik »Le Sacre du printemps« an.
Das Gesamtbild der Stücke wirkte so geschlossen wie eine Gruppe unterschiedlich gefärbter Edelratten im Käfig aus Plüsch. »Die Glocken« - der Balmont-Text, schwerlich genießbar, scheint der Poe-Diktion weit entschwunden zu sein - besteht aus vier selbstständig wirkenden Kantaten, die erste mit Tenor, die zweite mit Sopran, die dritte dramatische nur mit Chor und die vierte mit Bass, alle freilich jeweils orchestriert, und zwar ausnehmend handwerklich hoch stehend und durchgängig romantisch, gepaart mit dem Vokalen, bis in die letzten Enden der Seele. Das typisch Russische rührt die empfänglichen Sinne an, die Weite der Faktur, die Machtfülle des Glockenklangs zwischen Auftrieb, Feier, Katastrophe und Tod.
Stimmen erster Solisten bezauberten das Ohr: die weiche Temperierungen und unendliche Linien atemberaubend bewältigende Sopranistin Luba Orgonasova, der das Drama auffüllende Bass Michail Petrenko, nicht zuletzt der stimmgewaltige, die Seelennuancen restlos aussingende Rundfunkchor Berlin (Einstudierung: Simon Halsey). Der Schluss von »Die Glocken«: fast Mahler'sch, gelöst, gelichtet.
So kurz, nichts desto weniger riesig gebaut Strawinskys »Sternenkönig« ist, so gefällig ist er. Quarten und Terzen schichten sich darin. Keine Soli, nur Chor, knapp, karg, russisches Timbre nicht aussparend, meisterlich gesungen. Den unantagonistischen Reigen ergänzte eine insgesamt übermusizierte Wiedergabe von »Le sacre«. So größenwahnwitzig wie die Philharmoniker spielt dieses Werk (in der schwächeren revidierten Fassung der 40er Jahre) wohl kein anderes besseres Orchester. Einer Übertreibung folgte die nächste. Zumindest in den Tuttis.
Rattle, der Antreiber, der Gigantomane in dem Fall, er schwang auswendig dirigierend die Peitsche. Einzig die Bläser, teils auch Streichergruppen und andere Obligatorien schufen getreue, akzeptable Gangarten, brillierten - solistisch: das poesievolle, rituelle, bald durchs orchestrale Rattern überrollte Fagott, die Bassklarinetten der Einleitung. Die acht Hörner, ihre Instrumente mehrmals hochreckend, bliesen wie irre gewordene Jäger. Der »Tanz der Erde« wirkte überlaut, krachig. Schneller, weiter, höher - und immer lauter. O je, o je. Der Strawinsky ist doch schon laut genug.
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