Wenn beide Konfliktparteien jubeln
Das Urteil zum kirchlichen Streikrecht lässt vieles offen. Kirchen wie Gewerkschaften warten auf die schriftliche Begründung
Als das Bundesarbeitsgericht am Dienstag sein als historisch empfundenes Urteil zum Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen verkündete, jubelten beide Konfliktparteien: Zwar wird das Streikverbot gelockert - ein Erfolg für die Gewerkschaften. Aber die Kirchen behalten ihr weitgehendes Selbstbestimmungsrecht auch in arbeitsrechtlichen Fragen. Wirkliche Klarheit hat das Urteil nicht geschaffen - und das liegt nicht nur daran, dass der Streit demnächst wohl das Bundesverfassungsgericht beschäftigen wird.
Der erste Satz klang gut für die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und die ärztliche Standesorganisation Marburger Bund: Auch in kirchlichen Sozialeinrichtungen mit ihren rund 1,3 Millionen Beschäftigten darf es kein generelles Streikverbot geben und die Handvoll Streiks, die ver.di in Einrichtungen des evangelischen Wohlfahrtskonzerns Diakonie in der Vergangenheit anzettelt, waren rechtens. Schließlich sind gewerkschaftliche Rechte im Grundgesetz verankert. Doch dann kamen die »Abers«. Zehn Minuten lang. Und diese ließen kirchennahe Herzen höher schlagen.
Die Erfurter Richter wollten keines der beiden konkurrierenden Rechte »pulverisieren«. Deswegen ein Kompromiss: Der bisher gültige »Dritte Weg«, der eine »Dienstgemeinschaft« zwischen Unternehmensführung und Beschäftigten vorsieht, in der Interessenkonflikte, Gewerkschaften und Streiks einfach nicht vorkommen, bleibt im Wesentlichen bestehen. Die beiden großen Kirchen dürfen in ihren Unternehmen zudem ein Lohnfindungssystem vorsehen, das ohne Streik funktioniert, befanden die Richter einigermaßen weltfremd.
Doch sind unter bestimmten Bedingungen auch in kirchlichen Kindergärten, Altersheimen und Kliniken Streiks möglich: »Die Beeinträchtigung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts durch einen Arbeitskampf ist nicht ausnahmslos rechtswidrig«, so lautet die Kernposition der Richter.
Ein Streikverbot ist demgemäß nur dann möglich, wenn die Gewerkschaften an der Aushandlung von Tarifverträgen nicht beteiligt werden. Und wenn gleichzeitig keine verbindlichen Regelungen getroffen werden. Doch wann ist eine Beteiligung eine angemessene: Dürfen die Gewerkschaften einen etwa nötigen Schlichter mitbestimmen? Und was bedeutet verbindlich: Nur für eine Einrichtung oder auch für größere Einheiten?
Das sind Fragen, die das Bundesarbeitsgericht bis dato offen ließ. Ver.di und beide Kirchen warten daher mit Spannung auf die schriftliche Urteilsbegründung.
Doch ihre Schlussfolgerungen ziehen sie bereits jetzt: »Paritätisch besetzte Kommissionen und Schlichtungsverfahren schließen Streik aus«, glaubt man beim katholischen Caritas-Verband. Die Erfurter Entscheidung nehme ernst, dass der kirchliche Auftrag von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Dienstgemeinschaft wahrgenommen werde, glaubt der Präsident der Diakonie Deutschland, Oberkirchenrat Johannes Stockmeier.
Und ver.di, so ist zu hören, bereitet sich schon auf die nächsten Arbeitskämpfe in Diakonie-Einrichtungen vor - »und notfalls auch auf Streiks«.
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