Die 41-Minuten-Ermittlung
NSU-Aufklärung: Ein »ausgeräumter« Terrorismusverdacht und ein Zeuge, der von nichts nur die Hälfte weiß
Obst- und Gemüseläden, Lebensmittelmärkte, Bäckereien, Elektrogeschäfte, Geschenkbedarf, Imbissluken, Bekleidung, Schuhe, Elektronik, Handys ... Die meisten Geschäfte in der rund 800 Meter langen Kölner Keupstraße gehören türkischen Händlern, die vor allem Landsleuten Waren offerieren.
Vor einem Friseurladen ereignete sich am 9. Juni 2004 eine Explosion. Wie man heute weiß, hatten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die zwei Männer der dreiköpfigen »Zwickauer Zelle«, eine Bombe gezündet. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie bereits fünf Menschen hingerichtet, weitere fünf folgten. Dass es in Köln keine Toten gab, war Zufall. 22 Menschen wurden verletzt. Das war gegen 17 Uhr, zur Feierabendeinkaufszeit.
Der Untersuchungsausschuss des Bundestages interessierte sich gestern vor allem für das Geschehen nach der Tat. Helfen sollte der damals zuständige Innenminister Fritz Behrens, ein SPD-Mann. Der Zeuge übernahm zu Beginn seiner Vernehmung einen Teil der politischen Verantwortung dafür, dass die Neonazi-Terroristen so lange unentdeckt blieben. »Unbegreiflich« und »beschämend« sei das, sagte Behrens, der sich aber acht Jahre nach dem Kölner Anschlag nur an sehr wenig erinnern konnte. Behrens »geht davon aus«, »hält für möglich«, bestätigt, »es könnte so gewesen sein«. Nur bei einem war er sich sicher: Zwar verbreiten Medien noch immer, er hätte nach der Explosion jeden terroristischen und fremdenfeindlichen Hintergrund ausgeschlossen, doch das stimme nicht. Und warum sein Kollege auf Bundesebene, Parteifreund Otto Schily, das am 10. Juni gemacht hat, wisse er natürlich nicht.
Mit Behrens allein hätten die Abgeordneten es schwer gehabt, politische Hintergründe auszuleuchten. Doch zum Glück wird auch im Lagezentrum des NRW-Innenministeriums Arbeit protokolliert. So kennt man eine Information des Landeskriminalamtes (LKA) von 17.04 Uhr: »betr. terroristische Gewaltkriminalität«. Einen solchen Hintergrund anzunehmen, drängt sich auf. Die Bombe war schrapnellartig mit Zimmermannsnägeln präpariert. Die sollten zusätzliche Verletzungen erzeugen. Um 17.25 Uhr informierte das Lagezentrum den Minister über den Anschlag. Der hatte sich gerade in den Umzugsurlaub verabschiedet - in dem er trotz des Alarmzustandes noch weitere vier Tage verharrte.
Um 17.36 Uhr bat das ministerielle Lagezentrum das LKA um die Streichung von »terroristisch« aus dem Schriftverkehr. Dem kam man um 17.46 Uhr nach. 41 Minuten reichten, um den Gang der Ermittlungen zu drehen. Wohlgemerkt, nicht weil Ermittler auf neue Erkenntnisse gestoßen waren.
Die Weisung, so beteuert Behrens, »ist nicht von mir veranlasst worden«. Doch auch das Lagezentrum des Bundesinnenministeriums konnte in seinem am nächsten Morgen verfassten 24-Stunden-Bericht für die Rubrik politisch-motivierte Kriminalität eine Fehlstelle ausweisen und für den Kölner Anschlag - mit Verweis auf NRW - Terrorismus ausschließen. Die Ermittlungen fokussierten sich sehr schnell auf den Bereich der organisierten Kriminalität. Aufklärung verlangen auch die folgenden Eintragungen im Düsseldorfer »Wachbuch«: Um 19.53 Uhr bat der Leiter der Beschaffung Rechtsextremismus des Bundesamtes für Verfassungsschutz das Lagezentrum überraschend, fix eine Verbindung zu seinem Amtskollegen im Landesgeheimdienst herzustellen. Um 21.03 Uhr wollte Minister Behrens vom Lagezentrum wissen: »Warum ist der Verfassungsschutz eingeschaltet?«
Ja, warum! Allzu vieles liegt auch nach der 41. Sitzung des Untersuchungsgremiums unter einem grauen Schleier. Dabei ist für Experten eines klar: Der Bombenanschlag in Köln bot wohl die meisten Hinweise auf rechtsterroristische Motive und das Türkenhasser-NSU-Trio. Die Straße war überwiegend von Migranten bewohnt, verschiedene Aufzeichnungen von Überwachungskameras zeigen die beiden Täter. Sie sind als deutsch und Neonazis auszumachen. Die Nagelbombe war genau von jenem Typ, den die in Deutschland verbotene Neonazivereinigung Blood&Honour für Anschläge empfahl und der auch schon von Rechtsterroristen in London gezündet worden waren. Dazu fand man in Köln ein Flugblatt, auf dem mit Verweis auf den Keupstraßen-Anschlag vor »Überfremdung« gewarnt wird.
Am Nachmittag war das Thema V-Leute und NSU aufgerufen. Als Zeuge geladen war Bundesanwalt Hans-Jürgen Förster, weil er sich erinnert hatte, noch als Beamter im Bundesinnenministerium den Namen Wohlleben auf einer Liste von Verfassungsschutz-Verbindungsleuten gelesen zu haben. Ralf Wohlleben war einer der wichtigsten NSU-Helfer.
Nicht erschienen war gestern Ex-Staatssekretär August Hanning. Den hatte die Vorladung zu spät erreicht. Sagt er - und schiebt so die Vernehmung des einstigen Innen- und heutigen Finanzministers Wolfgang Schäuble (CDU) auf den 12. Dezember hinaus.
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