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Die Bolschewiki

Alexander Rabinowitch über 1917

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 4 Min.

Die gegenwärtig vorherrschende Meinung versucht eines der epochalsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts, die russische Revolution von 1917, zu einem der größten Schrecken der Menschheitsgeschichte zu degradieren und seinen tatsächlichen welthistorischen Rang zu negieren. In Deutschland ist sie bereits im öffentlichen Bewusstsein in den Schatten des Thesenanschlags von Martin Luther von 1517 getreten, mit dem der Beginn der Reformation datiert wird.

Für den US-amerikanischen Historiker russischer Herkunft Alexander Rabinowitch jedoch ist die russische Revolution vor 95 Jahren »ein kolossales Experiment mit Auswirkungen auf alle Länder«. Er wertet sie als eine »herausragende, wenn nicht die bedeutsamste historische Begebenheit des 20. Jahrhunderts überhaupt«. Der Obama-Demokrat (wie er sich selbst nennt) gehört zu jener heute raren Spezies von Wissenschaftlern, die nicht dem ideologischen, von Kapitalinteressen geleiteten Antikommunismus huldigen, sondern unvoreingenommen und sich exakt an eigene empirische Forschung haltend Geschichte rekonstruieren. Ergebnis seiner Recherchen: Die Oktoberrevolution war kein Militärputsch einer kleinen fanatischen Verschwörergruppe mit Lenin als Kopf und Trotzki als Anführer. Sie war vielmehr das Ergebnis einer überbordenden Unzufriedenheit der Bevölkerung Russlands über die konservative, konterrevolutionäre Politik der Provisorischen Regierung. Diese Unzufriedenheit verband sich mit der enormen Anziehungskraft des politischen Programms der Bolschewiki (Frieden, Brot, Boden, nationale Selbstbestimmung der Völker), einer durchaus nicht elitären, ideologisch und organisatorisch monolithen Partei von Berufsrevolutionären, sondern einer Massenpartei mit relativ demokratischen Strukturen und Organisationen. Abweichende Meinungen wurden noch nicht diskreditiert. Nicht nur der überragende Parteiführer Lenin oder der erst im August 1917 zu den Bolschewiki gekommene Trotzki, sondern auch »rechte«, also gemäßigtere Bolschewiki wie Kamenew übten wesentlichen Einfluss auf die Parteipolitik aus, ebenso die großen Regionalverbände. Wesentlich für den Erfolg war, dass die Bolschewiki trotzdem geschlossener in der Strategie und flexibler in der Taktik waren und die Grundstimmung der Bevölkerung rascher und genauer erfassten als andere Parteien, die ebenfalls die Eroberung der politischen Macht anstrebten.

Rabinowitch setzt die wissenschaftliche Pionierarbeit William Chamberlins (»Die russische Revolution 1917-1923«) aus den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts fort. Und Stephen Cohen urteilt, Rabinowitch habe das Wissen über dieses Ereignis nicht nur bereichert, sondern auch das bisherige westliche Verständnis über den Bolschewismus revidiert. Es ist nur zu verständlich, dass Historiker wie Richard Pipes Rabinowitch zu verunglimpfen versuchen, in dem sie u. a. behaupten, er würde der sowjetischen Historiographie folgen, was absoluter Unfug ist. Gerade die Hofhistoriker von Stalin, Chruschtschow und Breshnew bis hin zu Gorbatschow bekämpften entschieden Sichtweisen wie die von Rabinowitch, denn sie gefährdeten deren Machtambitionen. Sie waren Verfechter einer hierarchisch aufgebauten »Partei neuen Typs«, deren Funktionäre und Mitglieder bedingungs- und diskussionslos die Befehle und den Willen des Generalsekretärs durchzusetzen hatten. Auch der letzte Generalsekretär der KPdSU und dessen Nomenklatura waren außerstande zu einer wirklich sozialistisch-demokratischen Alternative, wie sie sich 1917 eröffnet hatte. Statt anzuknüpfen an die zerstörten Ursprünge zwangen sie das Land in einen Oligarchen-Kapitalismus.

Es verwundert auch nicht, dass die in Russland heute Herrschenden nicht daran interessiert sind, an die im Frühjahr 1917 in Russland begonnene Volksrevolution zu erinnern, die das autoritäre Zarenregime hinwegfegte. Und erst recht nicht an den - ohne Blutvergießen erfolgten - Umsturz im November 1917 in Petrograd, der einer neuen Diktatur von Großgrundbesitz, Großkapital und alter Zarenbürokratie zuvorkam und zunächst eine basisdemokratische Sowjetmacht etablierte. Damit wurde der »Aufbruch in einen egalitären Sozialismus« eingeleitet, der sich allerdings durch äußere und innere Umstände nicht durchsetzen konnte.

Im heutigen staatskapitalistischen Russland sind Revolutionen und Revolutionäre verpönt. Gefeiert werden deren Henker wie Stolypin. Nostalgisch gedenkt man der Zaren. An Stelle des Revolutionsfeiertages am 7. November trat (ab 2004) der »Tag der nationalen Einheit« in Erinnerung an die »Vertreibung der polnisch-litauischen Besatzer« aus Moskau am 4. November 1612.

Interessant ist, dass einige namhafte Historiker der Bundesrepublik wie der Mannheimer Hermann Weber das neue Buch von Rabinowitch als ein »geradezu spannend geschriebenes großartiges Werk« würdigen und sich wünschen, dass es hierzulande viele Leser finde. Auch der Russlandspezialist Heiko Haumann (Basel) meint, wer die Oktoberrevolution verstehen will, müsse zu diesem Buch greifen: »Unvoreingenommen, sorgfältig auf zugängliche Quellen gestützt und von geradezu detektivischer Systematik widerlegt diese Analyse die lange Zeit im Westen vorherrschende Auffassung, bei der Oktoberrevolution habe es sich um einen Putsch eines kleinen Verschwörerkreises bolschewistischer Fanatiker gehandelt.«

Alexander Rabinowitch: Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917. Mehring Verlag. 842 S., geb., 34,90 €

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