Ein Kessel Buntes
Bundesparteitag der Piraten diskutiert Partei- und Wahl-Programm
Zwei Tage für zwei Programme - nachdem die Piraten sechs Jahre auf solche Grundsatzpapiere verzichtet hatten? Das konnte nicht gut gehen. Wie stehen die Piraten zu Märkten und staatlicher Regulierung? Sind militärische Interventionen (vulgo: Krieg) mitunter akzeptabel - oder generell abzulehnen? Ziemlich relevante Fragen, auf die die Partei bisher keine Antwort gab. Doch das Jahr der Bundestagswahl naht.
Zäh waren die Debatten im RuhrCongress, hart tobten die Geschäftsordnungs-Schlachten, widersprüchlich erstrahlten die Beschlüsse. Chaos herrschte auch deshalb, weil die ach so technik-affinen Piraten unfähig waren, Ihresgleichen einen dauerhaften Zugang zum Internet anzubieten. Und das, obwohl die meisten relevanten Informationen nur über das Netz zugänglich waren.
Langeweile kam trotzdem nicht auf. So wurde über einen Antrag, der »freiheitlich«, »gerecht« und »nachhaltig« als Grundtugenden der Piraten definieren wollte, gleich vier Mal abgestimmt. Zunächst wurden Teile des Antrags beschlossen, wobei die Abstimmung wegen Unklarheit wiederholt werden musste.
Dann »übernahm« ein Mittfünfziger den ursprünglichen Antrag, um »ein eindeutiges Ergebnis« zu bekommen. Er erzwang eine zweite Abstimmung, diesmal per Stimmzettel. Schließlich gab es einen Geschäftsordnungs-Antrag auf erneute Wiederholung der Wahl. Chaos pur - und statt inhaltlicher Debatte ein Dutzend Anträge zur Geschäftsordnung und Streit über deren Für und Wider.
»Gemeinsamkeit« war das Wort, das in der Mehrzweckhalle am häufigsten fiel. »Die Politneulinge« (»WAZ«) sollten sich, so zumindest die Hoffnung von Parteichef Bernd Schlömer, in Bochum als »sozialliberale Bürgerrechtspartei« aufstellen. Schlömer forderte einen »Neustart für die Demokratie« ein und seine Partei zur Geschlossenheit auf.
Immerhin, die Piraten verfügen jetzt über programmatische Aussagen. Auch zum Thema Wirtschaftspolitik. Für jeden ist ein Happen dabei: Einerseits wollen die Piraten ein »freies, transparentes und gerechtes Wirtschaftssystem«. Es gelte, »geeignete Rahmenbedingungen für offene Märkte« herzustellen. Der Staat soll demgemäß bloß »einen Ordnungsrahmen« schaffen. Ordo-Liberalismus pur!
Andererseits schlagen die Piraten auch marktkritische Töne an. Sie träumen von einer gerechteren Beteiligung aller am Gesamtwohlstand, fordern eine »nachhaltige Bekämpfung der Altersarmut«, einen gesetzlichen Mindestlohn, mehr Verbraucherschutz. Auch die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens wollen sie prüfen.
Diese wirtschaftspolitischen Aussagen seien eine Ansammlung von Unverbindlichkeiten, monierte die Linkspartei-Vorsitzende Katja Kipping gegenüber »nd«. »Die Höhe des Mindestlohns bleibt unbestimmt, zur Vermögensteuer machen die Piraten keine Aussage, zur Schuldenbremse haben sie keine Meinung. Aber den Politikersprech beherrschen sie mittlerweile perfekt.«
Außenpolitisch haben die Piraten sich fortschrittlich positioniert: Zwar wurde über deutsche Kriegsbeteiligungen debattiert. Beschlossen wurde aber das Eintreten für »die Lösung von Konflikten mit friedlichen Mitteln«.
Bei den Freibeutern huldigt man traditionell einem reichlich verqueren Verständnis von »Basisdemokratie«. In Bochum mitbestimmen durfte jedes Mitglied, das seine Beiträge bezahlt hatte und die Reise in die Ruhrstadt nicht scheute. Delegierte (also gewählte Vertreter unter Ausschluss als unfähig Ausgemachter) kennt die orangefarbene Partei nicht.
Auch war in Bochum kein vollständiger Programmentwurf nebst Änderungsanträgen präsentiert worden. Eingereicht wurden über 800 Anträge; 0,4 pro anwesendem Pirat. Einer davon legte immerhin die »Struktur« des Grundsatz-Programms fest - in Form von 13 Kapitel-Überschriften.
Diese »Basisdemokratie« führte zu einer offenen Diktatur der streitbarsten, kompromissunfähigsten und am meisten querulantischen Elemente der Basis. Deutlich wurde einmal mehr: Die Piraten sind ein - freundlich formuliert: - sehr pluralistischer Haufen. Die Palette reicht vom weltfremden Linkslibertären über Allzu-Liberale bis hin zum eigentlich unpolitischen Wissenschaftler, der eine völlig freie Forschung will, die keinerlei ethischen Prinzipien unterliegt.
All das kann längst nicht mehr zugekleistert werden mit Erfolgsmeldungen: Die Partei rutscht in Umfragen derzeit meist unter fünf Prozent. Skandale und Skandälchen trüben die Stimmung.
Plötzlich steht Rainer Langhans im Flur. Weiße Locken, gleichfarbiger Esoteriker-Dress. In den 1960ern Kommune 1, letztes Jahr Teilnehmer der RTL-Show »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!«. Liiert mit fünf Frauen (sein »Harem«). Und Piraten-Fan.
Der 72-jährige Achtundsechziger wagt sich in Bochum an die ganz große Sinnfrage heran: Warum die ganze Chaos-Show? »Die Piraten«, sagt Langhans, »sind dazu da, uns heute schon zu sagen, wie die Welt von morgen ausschaut«. Heute schon wissen, wie morgen...? Vielleicht sollten die Piraten sich umbenennen in Wahrsager-Partei.
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