Flucht in die Abgrenzung
Muslime und Islam verursachen bei Mehrheitsgesellschaft irrationale Reaktionen
»Während einer Lehrerfortbildung sagte ich, Religion sei nur ein Pseudo-Thema. Hinter vielen Schulproblemen steckten viel tiefere Ursachen. Zum Beispiel Mädchen dürfen nicht auf Klassenfahrt. Aber ist das gleich fundamentalistisch begründet? Und eine Lehrerin hielt sich die Finger in die Ohren und schrie: ›Aufhören, aufhören, ich will das nicht mehr rechtfertigen und schön reden. Ich will die nicht mehr unterrichten!‹ Diese totale Abwehr war für mich schockierend«, erinnert sich die GEW-Funktionärin Sanem Kleff, die seit zwölf Jahren die bundesweite Aktion »Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage« leitet.
Kleff trug ihre Erfahrungen auf einer Veranstaltung dieser Aktion kürzlich in Berlin vor, wo darüber beraten wurde, wie man angemessen über Islam und Muslime berichten und diskutieren sollte. Gerade beim Stichwort Islam gebe es selbst unter Pädagogen Vorbehalte, so Kleff. Islamdebatten würden weniger sachlich, als vielmehr emotional geführt. Die Pädagogin, die 1955 in Ankara geboren wurde und Anfang der 1980er Jahre nach Deutschland kam, beobachtet seit Jahrzehnten eine Vereinseitigung der Debatten. Es gehe vor allem um die Differenz der Geschlechterrollen, um Beschneidung und Zwangsheirat, um das Bild des vermeintlich miesen muslimischen Mannes. Dagegen versuche man ein homogenes deutsches »Wir« zu idealisieren, das es so aber nicht gebe. Die Abgrenzung gegenüber dem Fremden, Islamischen rühre von einer Identitätskrise her. Man wisse eben nicht mehr, für welche Werte und für welchen Glauben man stehen soll.
Aus einer gewissen Hilflosigkeit heraus ließe sich dann auch die Tendenz erklären, den anderen lächerlich machen zu wollen. Kleff hält es für falsch, Salafisten etwa als »Schlafanzugträger« zu veralbern. »Hier zeigen endlich mal Leute eine klare Position, back to the roots. Salafisten haben daher eine große Anziehungskraft für haltlose muslimische Jugendliche. Es ist eine beachtenswerte Lifestyle-Haltung, wenn sie ohne Gewalt bleibt. Das wird weiter große Anziehungskraft haben. So waren auch die Hippies in den 1970er Jahren attraktiv für die Jugend, wurden aber von der Mehrheitsgesellschaft lächerlich gemacht.«
Der Kölner Fernsehjournalist Ahmet Senyurt mahnt gerade beim Thema Salafismus zur mehr Nüchternheit. Von den mehr als vier Millionen Muslimen in Deutschland seien gerade einmal 5000 Salafisten und nur die wenigsten gewaltbereit. »Dass es in Solingen und Bonn zu Ausschreitungen kam, lag eindeutig an taktischen Einsatzfehlern der Polizei. Die haben das nicht klar gegen die Pro-NRW-Leute abgeschirmt. Das habe ich dann berichtet und dafür eins aufs Dach gekriegt«, klagt Senyurt. Man wollte in den Medien offenbar nur das Bild des Chaos verbreitenden radikalen Muslims .
Ob Schulversagen, Jugendgewalt oder Terrorismus, alles würde in Redaktionen schnell auf den Islam zurückgeführt, bestätigt taz-Redakteur Daniel Bax. Es gebe da ein merkwürdiges Reiz-Reaktion-Schema, das ihn empöre. Wenn ein deutschstämmiger Mann seine Familie aus Eifersucht im Affekt tötet, so löse das in vielen Redaktionen bei weitem nicht so viel Emotionen aus, wie wenn solch ein menschliches Drama in muslimisch geprägten Milieus passiere.
Bax' Kollege Wolf Schmidt reist mit seinem neuen Buch »Jung, Deutsch, Taliban« zu Lesungen durch die Städte. »Dann sitzen da so ältere Damen und Herren und ziehen kleine Zettel mit Koranzitaten aus ihrer Tasche und vergleichen das mit Hitlers Mein Kampf. Das sind dann plötzlich alles Islam-Fachleute. Ich habe gar keine Lust mehr auf meine eigenen Buchvorstellungen«, seufzt der Journalist. Auch er beobachtet bei Kollegen immer wieder alarmistische Reflexe, sobald es um das Themenfeld Islam geht. »Ich verstehe überhaupt nicht die helle Aufregung, als klar wurde, dass auf der aktuellen Berliner Flughafenbaustelle ein Salafist beschäftigt war. Als würden wir jetzt untergehen. Keiner fragte, wie viel Neo-Nazis da arbeiten. Da wäre die Baustelle wohl schnell leer«, sagt Schmidt.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.