»Wir waren nicht nur Zeugen«
Polens Nationalisten gegen »Nestbeschmutzer«
Unter den fast 25 000 Menschen, die vom israelischen Institut Yad Vashem für ihren Einsatz zur Rettung von Juden vor dem Holocaust geehrt wurden, bilden 6339 Polen die weitaus größte Gruppe. Dies muss vorangestellt werden, bevor das Folgende beschrieben wird.
»Wach auf, Polen, zerbrich deine Fesseln!« Das Lied stammt aus der Zeit des Novemberaufstands von 1830, der sich gegen die russische Herrschaft über »Kongresspolen« richtete. Jetzt singen es Demonstranten der »Familie von Radio Maryja«. Am vergangenen Wochenende erklang es während einer von besagtem Sender organisierten Feierstunde. Und zwei Bischöfe stimmten ein. »Hör die Trompete blasen und sei bereit ...« Als stünde Polen noch immer unter der Knute Moskaus.
In Kreisen der katholischen Nationalisten ist das nichts Neues. »Oh Herr, gib uns unsere Freiheit wieder«, lautet die alt-neue Version eines Hymnus in vielen Kirchen. Mit dem Einstieg der sogenannten »Inteligencja« in den sich verschärfenden polnisch-polnischen Krieg erfasst eine Welle der Hysterie das öffentliche Leben. In Bezug auf Polens Vergangenheit, vor allem auf das Verhalten den Juden gegenüber, heucheln die Jünger Jaroslaw Kaczynskis, des Vorsitzenden der rechten Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), ganz besonders.
Unter den »wahren Polen« ist nämlich das Leugnen jeglicher Teilnahme polnischer Bürger an der Tötung jüdischer Mitbürger während des Zweiten Weltkriegs geradezu Standard. Und dies seit 2000, als in Polen Jan Tomasz Gross Buch »Die Nachbarn« erschien, das den Mord an Juden im nordostpolnischen Jedwabne behandelt. Zur Abwehr der »Nestbeschmutzung« gründeten die Leugner die »Strzembosz-Stiftung«, die nicht nur in einzelnen Pfarrgemeinden, sondern auch in akademischen Kreisen aktiv ist und sich von antisemitischen Ausfällen verschiedener Autoren des besagten Radio Maryja nährt. Gross, der seinem ersten Buch 2006 das Werk »Strach« (Angst) und 2011 den Titel »Zlote zniwa« (Goldene Ernte) folgen ließ, aber auch andere Autoren wie Barbara Engelking oder Anna Bikont, die in ihren Veröffentlichungen konkrete Fakten geschildert haben, werden unflätig beschimpft und bedroht.
Derzeit sind Filmemacher dran. Nach fünf Jahren Produktionsdauer wurde vor zwei Wochen der Film »Poklosie« (Nachernte) aufgeführt. Regisseur Wladyslaw Pasikowski und Hauptdarsteller Maciej Stuhr sehen sich bisher ungekannten vernichtenden Rezensionen der »patriotischen« Kritik ausgesetzt. Die Sprache dieser ideologisch geprägten Verrisse stammt teilweise direkt aus der Gosse. Der Vorstand des Verbandes Polnischer Bühnenkünstler (ZASP) sah sich jedenfalls veranlasst, seine Kollegen am Sonnabend in Schutz zu nehmen. »Die Tatsache, dass man (…) die Erforschung des eigenen Gewissens scheut und das Leben mit einem Totengerippe im Schrank vorzieht, ist kein Argument, um die Wahrheit unter den Teppich zu kehren.« Der Streifen von Pasikowski entspreche der Wahrheit über den Judenmord in einer polnischen Kleinstadt, betonte der Verbandsvorstand. »Unser Respekt gilt dem im Film offenbarten Schuldbekenntnis. Es erfüllt uns mit Stolz auf unser Vaterland.« Das ZASP-Gremium distanzierte sich von der chauvinistischen und fremdenfeindlichen Mystifikation irriger Eigengröße und sprach sich gegen jedwede Fälschung aus. Der Schauspieler Robert Rogalski, der noch als Kind erlebte, was Polen den Juden angetan hatten, sagte in einem Interview: »Wir waren nicht nur Zeugen der Verbrechen.«
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