Scrooge tanzt ...

Dickens‘ »Weihnachtsgeschichte« in Leipzig

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Schon einmal hat Charles Dickens' »Eine Weihnachtsgeschichte« die Tanzbühne erobert: 1988 in Bonn. In der Choreografie von Youri Vámos war sie verfugt mit Tschaikowskys »Nussknacker« und wurde ein solcher Erfolg, dass viele Theater diese ungewöhnliche Liaison übernahmen. Diesmal geht Dickens allein auf den Parcours: In Leipzig transponierte Mario Schröder die 1843 veröffentlichte philanthropisch-sozialkritische Story um die Läuterung eines Geizhalses in einen Abend für die gesamte Familie. Zusammen mit Thilo Reinhardt gliederte er den Inhalt in 18 Bilder, denen sie sinfonische Musik zuordneten: von englischen Komponisten wie Benjamin Britten, Edward Elgar, Frank Bridge, dazu »Leihgaben« europäischer Kollegen wie Grieg, Sibelius, Ravel, Saint-Saëns, Chabrier, Webern, Smetana sowie vom Amerikaner Michael Torke. Eine bunte Mischung für eine erlesen bunte Produktion.

Da rangiert zuvörderst die Ausstattung von Andreas Auerbach und Paul Zoller. Wie von Zauberhand verwandeln sich die Dekorationen, die Umbauten werden Teil des Tanzes. Es dominieren, auch in den Kostümen, die Farben Rot und Blau, in kühl heutiger Ästhetik, mit fast futuristischem Schick, dennoch dem Tanz Raum und Vorrang lassend. Auch er verzichtet auf jede sentimentale Einfärbung und erzählt stringent und ohne pantomimische Elemente. Schröder entrollt eher einen szenisch-sinfonischen Bilderbogen denn eine pralle Mitbang-Story. Emotion entwickelt sich aus dem Tanzvokabular, akrobatisch wie eh bei Schröder, auf modern erweiterter klassischer Basis und in den Schleudern großer Duette und Trios mit cleveren Anleihen aus dem Eiskunstlauf. Dass der Choreograf das literarische Script künstlerisch frei verarbeitet, war zu erwarten. Wie passfähig das geschieht, erhebt »Eine Weihnachtsgeschichte« zum ganz eigenständigen Wurf.

Umzuwerfen hat Fabrikant Scrooge jeweils zu Tagesbeginn den Steuerknüppel, damit die Herstellung von Weihnachtsmännern aus Schokolade floriert. Seine Armee identischer Arbeiter, eine Kreuzung aus schnauzbärtigen Chaplins und Heinzelmännchen, schuftet sich an personifizierter Schokomasse ab, drapiert sie weihnachtlich, was die Leckereien tatsächlich so steif wie ihre essbaren Kollegen macht, und stellt sie aufs Fließband. Rohre dampfen, am Rand räkelt sich Scrooge auf Geldsäcken, weitere Scheine rieseln zyklisch herab. Scrooges Neffe, knallig Pink bis zum kecken Schopf und durchaus keine Jammergestalt, kommt mit seiner Einladung zum Fest nicht gut an, weil Onkel lieber mit Geld tanzt: einem auf Spitze stakelnden Schmetterling mit Flügeln aus Dollarnoten.

Alptraumartig erlebt der Fabrikant dann, eine Uhr läuft rückwärts, Stationen seines Weges. Er sieht sich als Jungen, den uniformierte Mitschüler hänseln, der sich in Bella, die Neue, verliebt und dem glatzköpfigen Millionär nachgeht, der ihm Reichtum verheißt. Das Trio des Liebespaars mit dem alten Scrooge ist erster erfinderischer Höhepunkt einer ganzen Kollektion tänzerischer Massive. Zwischen Wolkenkratzern, deren Fenster zwinkern, macht er Karriere, feiert Weihnachten mit Reichen unterm hängenden Christbaum aus Lichtern. Als Vision sieht er ins Haus seines armen Vorarbeiters, dessen Sohn im Sterben liegt; der Baum wird zum Stern von Bethlehem, hinten taucht, Kitsch oder nicht, die heilige Familie auf. Noch legt Scrooge unbeugsam den Steuerknüppel um, das Begräbnis des Sohnes im Schattenriss erschreckt ihn, verwinkelt gezirkelt langsam auf dem Kopf drehend, dennoch. Dann folgt der Blick in die eigene Zukunft. Einsam ragen seine Beine aus dem Grab, der tote Leib wird Spielball von Gerippen, die, äußerst effektvolle Einlage, makaber tanzen, wobei abwechselnd ihre Gliedmaßen schweben.

Als Scrooge erwacht, ist er verwandelt. Hatte er die Arbeiter bisher traktiert, begrüßt und umarmt er nun jeden, streift sich den Weihnachtsmantel über und zieht mit schwerem Geschenkesack durch den Saal ab. Dass so viel humanistische Einkehr nicht simpel wirkt, dafür sorgt neben den comicartig stilisierten Kostümen Schröders bei aller ernsten Absicht gern auch ironisch-groteske Handschrift. So wird die Mär vom geheilten Geizkragen doch kein weltfremdes Menschheitsverbesserungsidyll, wohl aber zum Appell an jeden Zuschauer, im Kleinen Gutes zu tun.

Tomáš Ottych als Scrooge und Tyler Galster als sein geschmeidig präsenter Neffe leihen dem kurzweilige 80 Minuten durchlaufenden Abend besondere Akzente, rundum engagiert tanzt die Gruppe, und das begleitende Gewandhausorchester unter William Lacey ist ohnehin stets ein Genuss.

Nächste Vorstellungen: 5., 9.12.

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