Der »Machiavelli der Gewaltlosigkeit«
Der 84-jährige US-Amerikaner Gene Sharp entwickelte Strategien und Handlungsanweisungen für gewaltlosen Widerstand
Das Büro von Gene Sharp zu finden ist gar nicht so einfach. Niemand in dem Latino- und Arbeiterviertel im östlichen Boston kennt ihn oder seine »Albert Einstein Institution«. Taxifahrer zucken die Achseln. Es gibt kein Namensschild, das auf Sharp oder sein Werk an dem Backsteinhaus in der Cottage Street hinweisen würde. Die Haustür sei grün, das hatte mir Sharps Assistentin Dschamila Raqib per E-Mail mitgeteilt. An der einzigen grünen Haustür in der Straße befindet sich eine Klingel. Im Erdgeschoss des Einfamilienhauses befinden sich denn auch zwei angestaubte Räume mit Büchern bis unter die Decke. Gene Sharp wartet schon.
Der 84-Jährige trägt ein graues Hemd und eine braune Cordhose. Wenn er spricht, verschluckt er immer wieder Silben und wischt sich die Mundkanten. Er ist schwer gebrechlich, kann nur noch langsam und schwer gebückt gehen. Doch geistig ist er - das verraten auch seine Augen - voll präsent.
Das ist also der »Gottvater der gewaltfreien Revolution«, der »US-Amerikaner hinter der Arabellion«, der »Machiavelli der Gewaltlosigkeit«. So haben ihn in den letzten Monaten Zeitungen wie die »New York Times«, aber auch das alternative Nobelpreiskomitee genannt. Die den Preis vergebende »Right Livelihood«-Stiftung lobt ihn in der Laudatio, er habe gewaltlose Revolutionen »als erfolgreiche Instrumente des politischen Wandels etabliert«.
»Maßlos übertrieben« nennt Gene Sharp solche Zuschreibungen. Das sagt er nicht aus Bescheidenheit, sondern mit überzeugender Sachlichkeit. Er sei beispielsweise nie in Ägypten gewesen und habe sich über die Ereignisse am Tahrir-Platz ausschließlich über CNN informiert. In Kairo habe es zwar ein Mini-Büro gegeben, das ein paar seiner Schriften auf Arabisch vertrieben hat, sagt Sharp, außerdem seien ein paar Treffen mit ägyptischen Demokratieaktivisten erfolgt - »aber das war alles«.
Viel größeren Einfluss habe sein Werk im baltischen Osteuropa ausgeübt, sagt Gene Sharp: »Wir trafen uns mit Menschen aus der Regierung und berieten sie bei ihrem Austritt aus der Sowjetunion.« Das sei damals »unglaublich gewesen«. Er meint Lettlands Austritt während der Anwesenheit der UdSSR-Armee und des KGB im Land. Die Trennung forderte ein Dutzend Menschenleben. »Vergleiche das mal mit Tschetschenien«, sagt Sharp entrüstet. Zum Beleg kramt er ein dickes Buch mit dem Titel »Regaining Independence - non-violent resistance in Latvia 1945-1991« hervor. Meist werde die Geschichte des gewaltfreien Widerstands verzerrt oder totgeschwiegen - nicht so im Fall der baltischen Staaten, meint er.
In seinem zwischen 1973 und 1985 erschienenen dreibändigen Werk »The Politics of Nonviolent Action« hat Sharp einen Leitfaden für gewaltfreie Aktion geschrieben, auch schon als »Bibel« bezeichnet. Er listet auf 93 Seiten Methoden des gewaltfreien Widerstands auf - es sind 198. Zahlreiche waren in den letzten Jahren bei Revolten und Umstürzen zu beobachten. Methode 18, das Zeigen von Fahnen und symbolische Farben, war während der »grünen Revolution« gegen die iranischen Herrscher im Jahr 2008 populär. Methode 21, das Übergeben von symbolischen Objekten, kam 2004 in der Ukraine zum Tragen, als Frauen und Senioren Soldaten Blumen überreichten. Methode 167 wurde im Februar 2011 auf dem Kairoer Tahrir-Platz gegen das Mubarak-Regime geübt: Hunderttausende ließen sich zum »pray-in« auf Gebetsteppichen nieder. Keine der 198 Methoden ist von Gewalt geprägt oder zerstört etwas.
Sharp liefert außerdem Beispiele für die erfolgreiche Enttarnung von Polizeispitzeln. Auf Nachfrage zählt er auf, welche Elemente ziviler Ungehorsam umfasst: »Mahnwachen, Flugblätter, Demonstration, Streik, Boykott, Sitzstreik, Verweigerung, Sabotage, Meuterei, Hungerstreik, alternative Wirtschaftsinstitutionen, Parallelregierung«.
Es geht Gene Sharp um die Methode der Massenmobilisierung und darum, dass für einen erfolgreichen Aufstand ein Maximum an Masse politisiert und mobilisierbar bleibt, nicht durch bewaffnete Aktionen, sondern ausschließlich durch gewaltfreie Aktion. Wenn sich beispielsweise Hunderttausende mit beißendem Spott öffentlich über die herrschende Schicht lustig machen und dadurch deren Schwächen offenlegen, kann dies Massen mobilisieren. Als die Hausfrauen in Serbien ohrenbetäubend auf Kochtöpfe schlugen, waren die Verlautbarungen des verlogenen staatlichen Radios nicht mehr zu hören.
Sein erstes Buch über Mahatma Gandhi verfasste Sharp im Alter von 25 Jahren - als er neun Monate wegen Kriegsdienstverweigerung in Haft saß. Der US-Amerikaner begann 1965 als Forscher an der Harvard-Universität und wurde 1972 Politikprofessor an der Universität von Massachusetts in Dartmouth. Immer wieder wurde er als Agent der Herrschenden bezeichnet. Einfach abzuwehren war der Vorwurf ultralinker Dogmatiker, seine Vorschläge zum gewaltfreien Ungehorsam seien »kompatibel« mit dem »Menschenrechtsimperialismus« der USA. Weniger lustig wurde es, als ein iranisches Propagandavideo ihn als CIA-Agenten bezeichnete, der »Regime change« auf die menschenrechtliche Tour versuche - im Trio mit dem Milliardär George Soros und dem Republikaner-Senator John McCain.
Tatsächlich lässt nichts auf eine verschwörerische Verbindung von Sharps »Albert Einstein Institution« mit Regierungsinstitutionen wie der CIA schließen. Denn Sharps Arbeitsstätte ist ärmlich ausgestattet und krepelte jahrelang - auf Kleinspender angewiesen - am Existenzminimum.
Howard Zinn und Noam Chomsky sprangen 2008 mit einem offenen Brief für Sharp in die Bresche. Sie schrieben: »Statt das Instrument des Imperialismus zu sein, waren Dr. Sharps Forschungen und Artikel eine Inspiration für ganze Generationen von fortschrittlichen Aktivisten aus den Bereichen Frieden, Gewerkschaften, Feminismus, Menschenrechte, Umwelt und soziale Gerechtigkeit.«
Er habe seit den 50er Jahren nicht über die soziale Revolution geschrieben, dies sei Aufgabe und Berufung anderer, sagt Sharp. Er klassifiziere und analysiere auch nicht Regierungen und Regimes. Vielmehr gehe es ihm um die Methode des Umsturzes und um das Danach. Sharp erwähnt Rosa Luxemburg. Sie und andere seien »ernsthaft beschäftigt gewesen mit der Frage nach Befreiung, nach der menschlichen Emanzipation«. Und: »Gewalt war nie der richtige Weg«.
1984 sprach Sharp auf Einladung Petra Kellys beim verteidigungspolitischen Hearing der Grünen Bundestagsfraktion und stellte sein Konzept der »sozialen Verteidigung« vor. Doch schon damals zeigten diejenigen Grünen kein Interesse an alternativen Verteidigungskonzepten, die später als »Realos« bekannt wurden. Dabei ist Gewalt laut Sharp »die größte Waffe deines Gegners«.
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