Ein Merzbau für Bücherliebhaber

Schlüsselübergabe des lichterfüllten Lesesaals der Staatsbibliothek Unter den Linden

  • Martina Jammers
  • Lesedauer: 4 Min.

Von der Decke wirbeln Papierknäuel unterschiedlicher Provenienz: Wir entdecken Zeitungsschnipsel wie eine »VEB«-Schlagzeile und solche aus Hochglanzillustrierten. Aber ebenso eine mittelalterliche Handschrift sowie das hauseigene »Bibliotheks-Magazin«. Figurengedichte, einen Wilhelm-Busch-Titel sowie den architektonischen Längsschnitt des altehrwürdigen Großen Lesesaals der Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden 8. Hinterlistig wie sinnreich hat der Künstler Olaf Metzel seine Skulptur aus verformten, beidseitig bedruckten Aluminiumplatten »Noch Fragen?« getauft. Metzel bildet mit seinem wilden Papiersurrogat den Kontrast zur strengen Rasterordnung des neuen Hauptlesesaals der Stabi, wie sie seit geraumer Zeit liebevoll in Berlin heißt.

Als 1914 die damals »Königliche Bibliothek« ins neue, von Ernst von Ihne gebaute neobarocke Haus Unter den Linden einzog, galt der noble Kuppellesesaal als Krönung der größten wissenschaftlichen Universalbibliothek im deutschen Sprachraum. Doch nicht einmal drei Jahrzehnte währte diese gigantische Bauanstrengung: Zu drei Fünfteln wurde er 1943/44 von einem Bombenhagel verwüstet. Erst vierzehn Jahre später begab man sich daran, die Betonkuppelreste zu sprengen, womit die Grandezza eines Bibliothekstempels à la Bibliothèque Nationale (Paris) und der British Library dahinsank. Vier ziemlich nüchterne, LPG-siloartige und zudem wenig brauchbare Büchertürme ersetzten ab 1984 die einstige Pracht. Diese wurden im letzten Jahrzehnt mühsam im »Knabberverfahren« abgetragen.

Wo einst eine kolossale Kassettenkuppel das Saalachteck überspannte, findet der Besucher nunmehr einen zeitgemäßen Glaskubus des Architekten H.G. Merz vor. Mit seiner voluminösen Ausgestaltung des Würfels, die überaus elegant daherkommt, hat der Architekt das verloren gegangene funktionale wie raumkünstlerische Herz der Stabi neu erschaffen. Dieses subtile Weiterentwickeln bereits bestehender Formen hatte Merz ja schon 2001 mit der Alten Nationalgalerie genialisch vorgelegt. Am 10. Dezember erfolgt nun endlich die feierliche Übergabe jenes Schlüssels, mit dem demnächst der nämliche Glaskubus sowie der Rara-Lesesaal - nach eigener Auskunft übrigens »des Architekten liebster Raum, da eine bescheidene, aber doch großzügige Melange von Alt und Neu« -, die Tresormagazine und das Freihandmagazin betreten werden können. Achteinhalb Jahre währte die Bauzeit, die eigentlich triumphal enden sollte zum 350-Jahres-Jubiläum des Berliner Bibliotheksolymps. Doch das Warten hat sich gelohnt: Wo sich vom Kaiserreich bis zum Naziregime bis zu 395 Leser an Tischen in konzentrischen Ringen zum Lektürestudium einfanden, da waltet nun in parallel angeordneten Tischreihen mit 250 Arbeitsplätzen das Gebot der Klarheit. An Höhe hat Merz mit 36 Metern den Vorgängerbau sogar um zwei Meter übertroffen. Dafür ist sein Kubus mit 36 x 35 x 30 Metern nahezu quadratisch. Während sich der zentrale Lesesaal in den Bausockel eindrückt, schiebt sich der Rara-Lesesaal quer durch den Sockel. Damit bleiben die kostbaren Bestände also im geschützten Korpus verborgen. Allenfalls an den hofseitigen Fassaden werden die Wände durchbrochen.

Einige von Merz‘ Konkurrenten hatten bei der Auslobung auf die angestammte Kuppelversion gesetzt, der ja Norman Forster mit seiner Reichstagslösung zu einiger Renaissance verholfen hat. Was die Konzeption der Parlamentsüberdachung eint mit Merzens Glaswürfel, ist die prononcierte Luzidität des Aufbaus. Hier firmiert das thermisch verformte Glas, dessen Herstellung extrem aufwendig war, als Manifestation des Geistes in einer Tradition der Aufklärung, die das Licht ja bereits in ihrem Namen »Siècle de Lumière« beschwört.

Die Lichtfülle der schlierigen Gläser, die sich im neuen Lesesaal ausbreitet, hebt in geradezu Hegelianischen Sinne die strenge Raumrasterung auf, welche etwa die vielgelobte, nur einen Steinwurf entfernte Grimm-Bibliothek der Humboldt-Universität von Max Dudler dominiert. Auch im Erweiterungsbau der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek von Hilde Barz-Malfatti und Karl-Heinz Schmitt hatte man auf den hölzernen Kubus gesetzt. Hier mutet das schwindelerregende Emporwachsen der Buchregale an wie die Verpflichtung zur strengsten Abschirmung von der Außenwelt, wie es schon Ludwigs Wittgensteins Wiener Gehäus erzwang.

Der Merz-Bau indes lässt dem Geiste Flügel wachsen, lädt den Leser ein, über sich hinaus zu gehen. Und sich zugleich ruhig im Geistestempel »zu Hause« zu fühlen, was die warmen Hölzer sowie der orangefarbene Fußboden evozieren. Auch das Praktische wurde nicht vergessen: War der Freihandbereich im historischen Bau eher spärlich bemessen, so kann der Leser im Merz-Bau nun auf wohlgefüllte Freihand-Galerien zurückgreifen.

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